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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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schlenderte einfach weiter. Der Arbeitsvertrag in meiner Jacke, der Himmel orangerot, das Gekreisch von Möwen. Das Glucksen des Hudson. In Zeitlupe eine Handvoll Schlepper, deren Wellenbahnen sich kreuzten. Positionslampen grün und rot. Damit hätte man mit etwas Übung ihre Richtung bestimmen können, selbst bei mondloser Nacht. Später: der Himmel violett mit einem Stich ins Sirupgrün. Der Hudson in derselben Farbe; die ganze Stadt. Öllachen um Pfähle herum. Die Ausflugsboote festgetaut. Die Eiscremeverkäufer längst verschwunden. Eine kühle Luft vom Meer her machte die Bay unruhig. Möwen im Zickzackkurs. Das Knacken der wuchtigen Taue, dann Stille, dann wieder das hämmernde Knacken. Holzpfähle im Wasser, auf denen Möwen hocken und in den Wind starren. New Jersey jenseits des Ufers - dort beginnt der Westen, aus dem dieses Land gemacht ist.
    Daß ich es war, der dort tot am Strand gelegen hatte, daß dieser Mann im ausgedienten Nadelstreifenanzug, der in allen Zügen mir glich, ja sogar meine Uhr, meine Lesebrille und meine Ausweise bei sich trug, ich selbst gewesen sein mußte - ich konnte es noch immer nicht verstehen. Wie fassen, was unfaßbar ist, daß man sich selbst als einem Toten begegnet, als Mensch, der einem bis aufs Haar gleicht, der jedoch aufgehört hat zu sein? Kein Doppelgänger, sondern ein und derselbe. Kann es möglich sein, daß eine Existenz sich an Punkten wichtiger Entscheidungen gabelt und als zwei Entwürfe munter weiterentwickelt, ohne daß der eine vom anderen weiß? Ist es denkbar, daß jede Entscheidung immer auch ihr Gegenteil enthält? Daß ich die New-York-Maschine bestiegen und nicht bestiegen habe? Daß immer alles ist, immer alles zugleich ist, das Ja und das Nein, nur daß wir die Wirklichkeit niemals in ihrer Gesamtheit zu sehen kriegen, sondern ausschließlich durch einen fadendünnen Schlitz?
    Aber was mich noch viel mehr beschäftigte, was mich schmerzte und quälte, so daß es mir den ganzen Körper zusammenzog: daß Josephine tot war. Ich hätte alles darum gegeben, weinen zu können, aber statt dessen hörte ich einen Augenblick lang einfach auf zu funktionieren, ja auch die Welt um mich herum hörte auf zu existieren, alles war ganz still und hell und weiß, alles schien auf eine eigenartige Weise zu schweben, dabei war ich ja bloß stehengeblieben, um nachzudenken ... Ihre Brüste sind klein, aber schwer wie volle Cappuccinotäßchen, sie liegen tief, was mich nicht stört, im Gegenteil, ich finde sie aufreizend, gerade in Proportion zu ihrem sehr schlanken Körper. Ihr Haar ist schwarz, aber nicht pechschwarz, und wollte man es malen, so wäre man gezwungen, etwas Weiß beizumischen. Wenn sie den Kopf dreht, dann schwingen die Spitzen wie ein Jahrmarktkarussell über ihre Schultern. Irgendwie ist alles etwas anders, und doch paßt alles zusammen. Eine Handanfertigung, dieser Körper. Gott hatte entweder einen Anflug von Genie, oder er war betrunken, als er diese Frau geschaffen hat. Ich stelle mir Josephine in der wilden Natur vor und sehe einen Löwen, der sie verschlingt... Ich mußte mitten auf einer Straßenkreuzung stehengeblieben sein, denn plötzlich brauste eine Autokolonne auf mich zu, lärmte, hupte, stoppte quietschend vor mir und ließ mich wie einen Verletzten über die Straße humpeln. Ich krallte mich an der ersten Fußgängerampel fest, die ich greifen konnte, ich umarmte sie, als wäre sie eine Frau.
    Es war weit nach Mitternacht. Ich stand auf dem Balkon meines Apartments, Hände in den Hosentaschen, und beobachtete die Lichter, kriechende, manchmal huschende Lichter, durch die Spur getrennt in Rot und Weiß. Licht, wahllos über Wolkenkratzer verspritzt. Eine Stadt ohne Sinn für Tageszeiten. Müllabfuhr um drei Uhr morgens. Das Aufbrausen des Motors, wenn der Müll zusammengepreßt wird. Die Männer schleppen die nächsten Säcke an und lesen zusammen, was sonst noch herumliegt. Sobald der Müllrachen wieder frei ist: hinein in hohem Bogen, selbst wenn es Metallstücke sind, scheppernde, Auspuffrohre oder Pfannen. Wie der Rachen eines Löwen. Weg mit der ganzen Vergangenheit.
    Das große menschliche Bedürfnis nach Abschluß, nach einem Leben, aufgeteilt in Sinfoniesätze, in Kapitel, die für sich selbst stehen. Damit verbunden der Wunsch nach Auferstehung, als fordere jeder Lebensabschnitt seine eigene Geburt, seine eigene Taufe, seinen eigenen Höhepunkt, seinen eigenen Grabstein. Wie dieses New York zum Abschluß bringen? Wie New York

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