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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Lily schlief, so schien es, oder war schon tot, ich wollte nicht daran denken, was in diesem Körper vor sich gehen mußte.
    Als ich erwachte, befanden wir uns auf der anderen Seite der Insel. Aus einiger Distanz zu sehen: die Palmen, die wie Härchen aus dem einsamen Sandstrich stießen, der zerbrochene Segelbootrumpf, die Ruine. Die Strömung mußte uns über den Riffgürtel getragen haben. Das Tosen der Riffs jetzt als tiefes, dumpfes, fernes Grollen. Staniel war entfernter denn je. Die Sonne brannte mit einer gnadenlosen Unerbittlichkeit. Manchmal hatte ich Angst, sie würde das Schlauchboot zum Zerplatzen bringen, so glühend heiß war das gelbe Plastikgummi. Pausenlos zerrten die Wellen an unserem Boot. Paddeln sinnlos. Die Strömung, der Wind, alles war jetzt gegen uns. Mir blieb nichts anderes übrig, als Lily Schatten zu spenden, mich so über sie zu beugen, daß sie möglichst von der Sonne verschont blieb. Ich wußte nicht, ob sie noch atmete. Ich wußte es nicht einmal von mir selbst.
     
    Es mußte am folgenden Morgen geschehen sein, daß uns ein Patrouillenschiff der amerikanischen Küstenwache fand. Plötzlich ging alles sehr schnell. Ein Helikopter flog uns zur Basis in Andros Town, Bahamas, und von dort aus weiter nach Miami. Nach zwei Tagen wurde ich aus dem Spital entlassen, und Lilys Zustand war stabil genug, um sie nach New York zu transportieren - Lower Manhattan Community Hospital, wo sie mich schon kannten.
    »But then again, probabilities are always theoretical.«
    Nach dem Tod von Anna glaube ich ihm kein Wort mehr, Statistik hin oder her.
    Heute meint der Arzt, es könne noch drei Wochen dauern, bis Lily entlassen würde. Eine Entzündung der Herzklappen durch Rheumatisches Fieber (sogenannte bakterielle Endokarditis), ausgelöst durch die klimatischen Bedingungen, durch die zwei Tage als Totgeglaubte in der Grube - in ihrem Grab -, durch die Höllenqual der Hitze, den Mangel an Flüssigkeit, nichts Unkorrigierbares, eine unter solchen Umständen fast schon normale Entzündung. Daher ihr rasender Puls und das Fieber vor und während der Bergung. Operiert werden müsse nur dann, wenn sich der Zerstörungsprozeß der Herzklappe nicht durch Medikamente aufhalten läßt. Hier nicht der Fall, weil in den Händen eines Arztes. Therapie: Antibiotika zuerst als Infusion, dann ambulant für sechs bis vierzehn Monate.
    Nur sehr selten soll es zum Tod kommen.
    Ich verlasse das Spital. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite drehe ich mich um und schaue noch einmal die Fassade hoch, wo sich mein Blick im Wirrwarr der rostigen Kästen des Airconditioning verfängt, die wie die Symptome einer Krankheit aus fast jedem Fenster quellen - dann folge ich meinen Schritten, die offenbar wissen, wohin es geht: die 8th Avenue entlang hinunter zur abgerundeten Spitze, wo Manhattan aufhört.
    Wie dieses New York zum Abschluß bringen?
    Den Arbeitsvertrag, den ich seit gestern mit mir herumtrage - ich ziehe ihn aus dem Jackett, dann werfe ich ihn in den Hudson. Dort bleibt er liegen, schaukelt minutenlang auf und ab und verschwindet unter der Brüstung. Einen Augenblick lang die Hoffnung, eine Möwe würde das Papier herausfischen und mir vor die Füße werfen - ein Zeichen, daß wir füreinander geschaffen sind, die Karriere und ich. Ich tue jetzt alles für ein Zeichen. Ich werfe mein Taschentuch in den Wind - aber dieses bleibt nicht an der Immigrant Statue im Battery Park hängen wie erhofft, sondern flattert durch den Park, über die Straße und wird von einer Limousine überfahren. Gesucht: jemand, der all das ist, was ich nicht bin ... Meine Gedanken sind lächerlich. Ich weiß es.
    Wie New York zum Abschluß bringen?
    Ich hätte mich jetzt gern gespürt, meinen Körper, meine Anwesenheit, und sei es nur durch kalte Füße oder einen Schweißausbruch. Aber ich spüre nichts. Ab und zu Wind im Gesicht, aber das könnte Einbildung sein. Nur mein Denken ist da. Die vorbeiziehende Möwe ist nicht schwarz, sondern weiß. Auf dem Seziertisch aufgespannt sähe sie aus wie ein Segelschiff im Sturm. Als ich mit weichen Knien und am ganzen Körper erschöpft, über das Geländer gebeugt in das Wasser des Hudson starre - etwa an der Stelle, wo man Anna herausgefischt hat -, ein Anruf von Sievers auf meinem Handy. Und dies, obwohl ich mir geschworen habe, mit Ausnahme des Spitals keine Anrufe mehr entgegenzunehmen.
    »Sie leben ja noch!« meint er erstaunt und lacht in den Hörer. »Ich dachte schon, Sie seien von

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