Himmelreich
Marsmenschen entführt worden.«
Als ich nichts erwidere, auch nicht nach einer Weile, sein Versuch, mich zu bearbeiten: »Also, Himmelreich, geben Sie sich einen Ruck! Das kann jedem mal passieren, daß er den Kopf verliert und in eine Krise abrutscht, völlig normal, aber deswegen doch nicht alles hinschmeißen, besonders nicht bei einer solchen beruflichen Aussicht. Come on.«
»Come on«, er sagt es immer wieder. »Kommen Sie zur Vernunft!«
Ich verweise auf meine schriftliche Kündigung.
»Come on.«
Als er nicht verstehen will, lasse ich das Handy bei laufender Verbindung in den Hudson plumpsen.
Nach drei Wochen kann ich Lily mit nach Hause nehmen. Nach Hause heißt: in die eigene Wohnung, Upper East Side, die schon seit Wochen leer steht. Der Koffer, ein Trolley, steht gepackt an der Tür, nur Rasierapparat und Zahnbürste liegen noch herum, auch ein Wecker. Meine Anzüge bin ich losgeworden - ich habe sie einen nach dem anderen in die Reinigung gebracht und einfach nicht mehr abgeholt. Die Krawatten habe ich an einem besonders windigen Tag aus dem Fenster geworfen. Außer dem Bett sind alle Möbel weg, verschenkt an ein junges Pärchen, Expatriates aus Südafrika, das auf meinem Stockwerk eingezogen ist. Er, neuer Partner bei Pricewaterhouse-Coopers, arbeitet Tag und Nacht, und sie, ausgebildete Apothekerin, wartet noch auf die amerikanische Arbeitsbewilligung. Beide, erfahre ich, möchten in diesem Land bleiben. Nur unser Bett steht noch da.
Lily, voller Bewegungsdrang, macht sich sofort über das Gepäck her, bis alles kreuz und quer auf dem Wohnzimmerteppich verstreut liegt. Ich schaue ihr zu, wie man einem Haustier zuschaut, das man soeben erworben hat.
Meine - unsere - letzte Nacht in New York.
Ich bin es nicht gewohnt, mit einem Kind zu leben, und das Kind nicht, mit mir. So halten wir uns beide gegenseitig wach, die ganze Nacht.
Es soll schneien, heute, sagt der Portier, als ich am anderen Morgen, hundemüde, über die Straße schlurfe, um irgendwo Babynahrung aufzutreiben - gelber Brei in Gläschen. Auch Windeln, habe ich gemerkt, braucht es. »Der erste Schnee. Machen Sie, daß Sie noch rechtzeitig aus der Stadt kommen, bevor der Schnee den Verkehr zum Erliegen bringt«, warnt er. Seine Hände stecken in den Manteltaschen, und von allen Bewegungen läßt er nur jene der Lippen und der Augen zu.
Am frühen Nachmittag mit dem Taxi hinaus nach Newark, New Jersey. Lily, ihr Blick auf das Foto des Taxifahrers geheftet, ein Schwarzweißgesicht mit starren Augen, ein Verbrecherfoto, darunter die Nummer des Cabs und die 800er Nummer der Stadtverwaltung für Beschwerden. Draußen New Jersey - eine einzige Müllhalde. Drahtzäune markieren die Grenze zwischen ausgeschlachteten Fabrikarealen. Oft sind sie aufgerissen und liegen stückweise im Gras. Äste wachsen aus Mauerlöchern. Fensterscheiben nur noch als Splitter. Öl wie eine zarte Regenbogenhaut über Tümpel gezogen. Die Natur ist nicht zu stoppen. Eine Raffinerie - Öltonnen, Destillierkolonnen, Kamine - alles längst stillgelegt. Alles überwuchert. Schienenstränge ziehen sich über die Sümpfe. Manchmal hören sie einfach auf oder hängen geknickt ins Gras. Ziehbrücken so hoch wie der Himmel, aus einer Zeit, in der Fracht auf Kanäle angewiesen war. Gigantische Zugräder mit Speichen, Flaschenzügen, Stahlseilen. Dazwischen schlängelt sich eine Interstate. In zehntausend Jahren werden Ausgrabungen hier eine Sensation bedeuten.
Newark Airport: Wir sind viel zu früh da. Rolltreppe hoch, per Förderband geradeaus, mit dem Lift hinunter, eine Überführung, dann eine halbe Treppe hoch, die Magnetbahn zum Terminal C, wieder ein Lift, wieder eine Rolltreppe, dann geradeaus zum Gate, aber das geht nicht wegen Bauarbeiten, also um die Absperrungen herum mit der Aufschrift »we apologize for the inconvenience as we improve the airport for you« - alles ist »for you« in diesem Land -, die Absperrungen scheinen sich um den ganzen Flughafen zu ziehen, man geht zwischen weißgestrichenen Sperrholzplatten, orientierungslos. Lily trage ich in einem Kindersitz auf dem Rücken, der mir von der Verkäuferin der Babynahrung heute früh wärmstens empfohlen wurde.
Sicherheitskontrolle. Vor mir der gewaltige Haarschopf einer Frau. Haare wie Wolle. Ein großer, schlanker, junger Körper. Dem Metalldetektor paßt er nicht. Als ich mein Handgepäck aufs Förderband lege, sehe ich zu, wie der Mann vom Sicherheitsdienst mit einem langen schwarzen Stab um
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