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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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von Long Island, wie sie hinter dem Triebwerk verschwindet. Montauk. Dann nichts als Atlantik.
    Flug nach Osten in die Nacht hinein, die vier Stunden dauert. Man liegt in Wolldecken wie ein Kranker. Immer ist die Stewardess da und füllt Wasser nach.
    Ich mache kein Auge zu. Lily schläft.
    Ich stelle mir vor: unsere Wochen und Monate vor dem Wirbelsturm. Mittlerweile haben wir einen Generator, der genug Strom für eine Klimaanlage, den Kühlschrank und die Backstube liefert. Etwa 80 Baguettes pro Tag, 120 Rolls, 50 Pains au Chocolat, manchmal Käsekuchen und an den Wochenenden Patisserie - entweder Kirschtorte, Cremeschnitte, Pain de Raisin, je nach Verfügbarkeit von Zutaten. Das ist zwar kein Geschäft, aber es hält uns beschäftigt. Was am schwierigsten aufzutreiben ist: Milch und Sahne. Alles andere - Zucker, Mehl, Hefe - haben wir auf Lager, Anlieferung monatlich mit dem rostigen Postboot nach Staniel Cay (5 Kilometer entfernt), wenn sie's nicht vergessen haben, sonst im nächsten Monat. Eier täglich frisch von unserer eigenen kleinen Hühnerfarm - etwa hundert Hühner in einem Gehege so groß wie ein halbes Fußballfeld.
    Wir sind die einzigen Menschen auf dieser winzigen Insel - mit Ausnahme der Segler und Hobbytaucher, die allerdings selten über Nacht bleiben. Wir sind die erste Zivilisation. Adam und Eva. Nur daß es keine Äpfel gibt, die uns verführen könnten, dafür Kokosnüsse. Mit der Zeit lernen wir, sie an einem Korallenfels aufzuschlagen, ohne daß die Milch ausläuft. Kurze Zeit nach unserer Landung Bekanntschaft, dann Freundschaft mit den Bewohnern von Staniel Cay. Es stellt sich heraus, daß unsere Insel der Familie von Joe-Joe gehört, einem untersetzten, kräftig gebauten, einfallsreichen Einheimischen um die 50, einem Schwarzen mit glattrasiertem Schädel, in dessen Gesicht, neben den Schweißperlen, eine Gucci-Sonnenbrille glitzert vermutlich Imitat. Seine schneeweißen Zähne, wenn er lacht. Joe-Joe, so nennen ihn hier alle, ist Unternehmer, Bauunternehmer, der die zwei Dutzend arbeitswilligen Männer von Staniel am Sonntagabend mit seinem rostigen Kahn nach Nassau kuttert - fünf Stunden Überfahrt je nach Wellengang - und mit ihnen Freitagnacht wieder zurückfährt. Spezialisierung auf Akkordmaurerei. Das Geschäft läuft gut, meint Joe-Joe, besonders bei so vielen Neubauten in der Hauptstadt.
    Die Idee mit der Bäckerei kam einfach so: Mangel an frischem Brot, besonders bei Seglern. Also: keine Tiki-Bar, kein Scuba-Reparatur-Shop, keine Lobsterfischerei und was an konventionellen Ideen sonst noch herumschwirrt, sondern - eine Bäckerei. Jawohl, Bankdirektor Himmelreich als Entrepreneur! Eine Ladung Backsteine, abgezweigt von einem gigantischen Resortneubau auf Nassau, genügen für den Ofen. So kommen wir auch zum Kühlschrank - einem brandneuen Frigidaire Gallery< -, zum Generator, zum Diesel für den Generator, zur Verkabelung. Als Gegenleistung offerieren wir Joe-Joe und seinen Männern kostenlos Brot für alle Zukunft.
    Brot backen ist nicht schwierig. Wie wir es lernen? So wie wir segeln gelernt haben - indem man es tut. Vorrang der Aktion gegenüber der Kontemplation. Probieren statt nachschlagen. Handeln statt fragen. Nach wenigen Wochen des Experimentierens rollen die ersten eßbaren Exemplare aus dem Ofen.
    Überhaupt das Kneten. Spiel mit dem Widerstand des Materials. Urform von Tätigkeit. Ich bohre meine Finger in den Teig, hebe ihn aus der Schüssel und schmettere den Klumpen auf den gepuderten Tisch. Mehlwolken. Wuchtig. Genau so. Mit allen neuneinhalb Fingern. Der Teig mit seinem angenehmen Eigensinn.
    Ein paar Monate später beschafft uns Joe-Joe, ich will nicht wissen, woher, einen richtigen elektrischen Backofen mit Temperaturkurvenprogrammierung, Nachheizstufe und anderen Schikanen. Das ist der Beginn unserer Patisserie-Produktion. Es spricht sich herum, daß auf dieser Insel »ein Bäcker-Ehepaar« lebt, und so werden wir zur Anlaufstelle von Segelcrews, ja man zeigt uns bereits entsprechende Einträge in Segelhandbüchern: »This adorable bakery, approx. 5 miles north of Staniel Cay, couldn't be a nicer place to spend a long afternoon sipping delicious coffee and tasting unbelievably yummy food. It is operated by the Swiss-German couple Philip and Josephine Himmelreich who landed here after an exhausting transatlantic Odyssee and restarted their life< in paradise.« Oder, in einem deutschen Segelführer: »Alles, was Philip und Josephine Himmelreich produzieren,

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