Himmelsfelsen
abgestreift und die Schuhe
ausgezogen, als er sich zur Ruhe begab. Jetzt, drei Stunden später, stand er auf
und ging noch schlaftrunken zum Fenster, durch das die Sonne schien. Das Mobiliar,
die Vorhänge, das gesamte Ambiente, es verbreitete noch immer den Charme voriger
Jahrhunderte. Die Familie versuchte, diese Tradition zu pflegen. Die vier Kinder,
allesamt inzwischen erwachsen, wollten nur teilweise in die historischen Fußstapfen
treten. Die beiden Mädchen waren standesgemäß verheiratet. Schließlich reichten
die Beziehungen in die Adelshäuser ganz Europas. Ein Sohn, längst mit einer Adeligen
aus Frankreich verheiratet, war inzwischen auch schon mehrfacher Vater. Er war als
Gutsverwalter eingesetzt. Nicht nur die Wälder rings um Geislingen, sondern auch
Immobilien und Flurstücke in anderen Teilen des Landes und sogar im Ausland gehörten
dazu. Niemand wusste so genau, ob die gräfliche Familie unter der Last dieser Besitztümer
litt oder ob die zur Schau getragene Sparsamkeit nur dazu angetan war, von den wahren
Verhältnissen abzulenken. Der Alt-Graf jedenfalls machte sich einen Spaß daraus,
bei Aldi einzukaufen und die Plastiktüte mit dieser Firmenaufschrift nach Hause
zu tragen.
Er war ohnehin ein Original, intelligent, humorvoll,
erfahren, dazu die Höflichkeit in Person, wohl stets auch darauf bedacht, standesgemäß
aufzutreten. Er liebte es, mit ›Herr Graf‹ angeredet zu werden. Und alle, die es
wussten, taten ihm den Gefallen.
Mit seinen 75 Jahren war er ungewöhnlich fit.
Jetzt, da er sich nicht mehr um den Betrieb zu kümmern brauchte, konnte er sich
ganz der Jägerei widmen.
Die vornehme Zurückhaltung hatte es ihm an
diesem Vormittag für geboten erscheinen lassen, sich nicht unter das neugierige
Volk zu mischen. Während er am Fenster stand und sich von der Sonne wärmen ließ,
ging hinter ihm die zweiflüglige schwere Tür auf. Sein Sohn Friedrich kam herein,
mit hellgrüner Hose und kurzärmeligem grünen Hemd bekleidet. Ein Mann, der sich
zwar einerseits auch noch mit der Tradition der Familie verbunden fühlte, der aber
aufgrund seiner kaufmännischen und forstwirtschaftlichen Ausbildung sehr wohl wusste,
dass mit einer ruhmreichen Vergangenheit heutzutage keine Geschäfte mehr zu machen
waren.
»Entschuldige, Vater«, sagte er und kam an
das große Fenster heran, an dem der Alt-Graf den Vorhang inzwischen zur Seite gezogen
hatte.
»Wir sollten vielleicht nochmals die Finanzierung
der ›Stone-Creek-Farm‹ durchgehen, da wäre ich dir sehr dankbar.«
Der Alte drehte sich um. Die ›Stone-Creek-Farm‹
in Kanada war sein Lieblingsthema. Ein traumhaftes Anwesen vor der Kulisse der Rocky
Mountains. Schon immer war es sein Wunsch gewesen, dort eine Farm zu besitzen. Natürlich
nicht selbst zu bewirtschaften, aber Farmer zu sein, hinauszublicken auf die weite
Ebene, bis hin zu den Bergen. Und nicht so eingeengt zu sein, wie im Eybacher Tal.
»Wir waren uns doch einig …«, warf der Alte
ein.
»Schon, aber ich würde das gerne mit dir durchgehen,
weil das Finanzierungsmodell noch gewisse Risiken birgt.«
»Gut, das können wir gleich erledigen«, meinte
der Senior-Graf und schritt durch den Raum, in dem der hölzerne Boden knackte. Noch
vor der Tür hielt er inne: »Sag’ mal, Friedrich, was war denn das heut’ Morgen da
draußen für ein Spektakel?«
»Du hast das gar nicht mitbekommen?«
»Doch, wie ich von Stötten zurückgekommen bin,
war da draußen ein riesiger Menschenauflauf. Außerdem hab’ ich’s droben schon gehört.
Das hat mir mein ganzes Wild verscheucht.«
»Es ist jemand vom Himmelsfelsen gefallen.«
Der Graf schien für einen kurzen Moment zu
erstarren. »Wie? Heut’ früh schon?«
»Ja, offenbar ein Jogger, hat’s im Radio geheißen.«
Der Sohn hielt kurz inne, um dann hinzuzufügen: »Den hättest du eigentlich da oben
sehen müssen.«
Der Graf ging einen Schritt weiter zur Tür.
»Du hast Recht, eigentlich schon«, er überlegte, »aber von meinem heutigen Sitz
aus war der Wanderweg kaum einzusehen.«
»Und gehört hast du auch nichts?«
»Geräusche hat’s da immer. Nur einmal hat da
irgend so ein Idiot kurz gebrüllt, das muss aber von unten gekommen sein, es hat
seltsam zu mir hochgehallt.«
Friedrich blickte seinem Vater ins Gesicht:
»Mein Gott, das war der Mann, das war sein Todesschrei, den du gehört hast. Der
Schrei muss erbärmlich gewesen sein, sagt auch die Frau Hofer.« Der Jung-Graf meinte
damit die Sekretärin in seinem Büro.
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