Himmelsfelsen
jetzt
erst mal nach Hause gehen und duschen. Sie können mich aber jederzeit per Handy
erreichen.« Mit diesen Worten übergab er seine Visitenkarte und ging.
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Das Alten- und Pflegeheim Samariterstift war erst vor wenigen Jahren
gebaut worden. Ein zwar modernes, aber stilvolles Gebäude auf dem Gelände einer
alten Fabrik, die Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Nähe zum Stadtkern
entstanden war. Zumindest die vitalen Senioren konnten somit direkt am Rande der
City wohnen und deren Angebote in Anspruch nehmen.
Ein Teil der Zimmer war jedoch von bettlägerigen
Menschen belegt, die praktisch rund um die Uhr der Pflege bedurften. Dabei handelte
es sich meist um Alte, die auch noch geistige Behinderungen aufwiesen. Nicht selten
kam es vor, dass die Patienten kaum noch Angehörige hatten oder dass sich diese
nicht um sie kümmerten. Amalie Neugebauer, 96 Jahre alt und seit vier Jahren bereits
ein Pflegefall, bekam selten Besuch. Die einzigen Verwandten, die es in ihrer kleinen
Familie noch gab, waren ihre beiden Neffen, zwei gestandene Männer, die jedoch beide
beruflich stark eingespannt waren. Solange die alte Tante noch geistig auf der Höhe
gewesen war, hatte sie die Arbeit ihrer Neffen stets mit Interesse verfolgt und
Verständnis dafür gezeigt, dass sie nur selten zu Besuch kommen konnten. Seit geraumer
Zeit verschlechterte sich ihr Zustand aber sowieso von Woche zu Woche. Dass sich
einer ihrer Neffen wenigstens regelmäßig telefonisch bei der Stationsleiterin nach
ihr erkundigte, blieb ihr also verborgen.
Amalie Neugebauer war vor einem halben Jahrhundert
eine angesehene Geschäftsfrau in dieser Stadt gewesen. Zusammen mit ihrem verstorbenen
Mann hatte sie ein Modehaus geführt. Später vermieteten sie ihr Anwesen mitten in
der Altstadt mit mäßigem Erfolg an wechselnde Ladeninhaber. Seit nunmehr zehn Jahren
stand fast der gesamte Gebäudekomplex leer und gammelte vor sich hin. Nur eine einzige
Wohnung war vermietet. Dass sich keine weiteren Mieter fanden, daran freilich war
die alte Dame nicht ganz unschuldig. Denn solang sie noch gesund war, hatte sie
zwar mit einer Vielzahl von Miet-Interessenten verhandelt, sie aber allesamt durch
überhöhte Mietforderungen vergrault. Wahrscheinlich war es dem Altersstarrsinn zuzuschreiben,
der sie nicht hat einlenken lassen. Lieber hatte sie auf einen Mieter verzichtet,
als dass sie von ihren Vorstellungen abgewichen wäre. Auch zum Leidwesen der Stadtplaner,
die sich durch diese unnachgiebige Haltung der alten Dame in ihren Konzepten eingeengt
sahen.
An diesem Nachmittag hing in den Fluren des
Samariterstifts stickige Luft. Das Gebäude war architektonisch ansprechend eingerichtet
worden. Keine langen Korridore, keine Krankenhausatmosphäre. Stattdessen viel Grün,
viele Ecken und Winkel mit Sitzgruppen. Vieles davon erinnerte eher an ein Hotel.
Die Leiterin der Pflegestation, Gerda Riedmüller,
eine kleine, dickliche Frau, die schon viele Schicksale miterlebt hatte, und es
trotzdem verstand, stets ausgeglichen und beruhigend zu wirken, war gerade in ihr
Büro gegangen, um die Tagesberichte des Personals zu lesen. Über jeden Pflegefall
musste exakt Buch geführt werden. Während sie die Aufzeichnungen überprüfte, dachte
sie an ihre derzeit gebrechlichste Patientin: Amalie Neugebauer. Vielleicht war
Telepathie im Spiel. Schon oft hat die Pflegestations-Leiterin feststellen müssen,
dass ihr plötzlich ein Patient in den Sinn kam, der an der Schwelle des Todes stand.
Sie war davon überzeugt, dass ein Mensch in solchen Momenten Signale aussendet,
die andere, wenn sie dafür empfänglich sind, aufnehmen können. Da sie schon viel
darüber gelesen hatte, stand für sie außer Frage, dass der Tod nicht das absolute
Ende bedeutet, sondern nur jener Augenblick, in dem sich die Lebensenergie, sprich
die Seele aus dem Körper löst. Energie, das hatte sie auch einmal gelesen, kann
nach Meinung von Wissenschaftlern nicht verloren gehen, sondern wird nur umgewandelt.
Während Gerda Riedmüller über diese Theorien sinnierte, klopfte es zaghaft an der
Tür. »Ja«, rief sie und wurde schlagartig wieder in die Gegenwart versetzt, als
eine junge Pflegerin deprimiert den Raum betrat. Sie ahnte sofort, was geschehen
war und fragte nur ruhig: »Ist es Frau Neugebauer?«
Die junge Pflegerin nickte. »Setzen Sie sich«,
sagte die Chefin, »ich mach’ das schon.«
August Häberle schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz nach halb sechs.
Ein verdammt langer Tag,
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