Himmelsfelsen
die strahlend-gelben Blüten fast schon verblüht.
Der Anstieg hinterm Ort reichte bis auf 734
Meter Höhe hinauf, dem weit und breit höchsten Punkt. Dort hatten sich im Laufe
der Zeit verschiedene Institutionen angesiedelt: Die Telekom mit einem hohen Funkturm,
der Deutsche Wetterdienst mit einer Wetterstation sowie ein Energie-Versorgungsunternehmen,
das hier seit Langem Versuche mit Windkraft-Rotoren machte. Inzwischen hatten private
Investoren ein halbes Dutzend riesige Windräder errichtet. Hier oben versprachen
sie sich eine gute Rendite, da der Wind kalt und beständig blies.
Die Wetterstation befand sich im Obergeschoss
eines Gebäudes, das dem Energie-Versorgungsunternehmen sporadisch für Schulungs-
und Informationszwecke diente. Meist jedoch waren die Wetterdiensttechniker allein.
Dass trotz automatischer Messgeräte noch immer ein Schichtdienst vor Ort notwendig
war, hatten die Bediensteten dem nahen Flughafen Stuttgart zu verdanken, der die
Daten der Alb-Wetterstation benötigte. Sechs Mann teilten sich den Dienst rund um
die Uhr ein. Der Schichtwechsel war der einzige Moment, wo sich jeweils zwei Kollegen
trafen. Es war eine ziemlich einsame Angelegenheit hier oben. Einzige Abwechslung
bot das Wetter, das hier mit aller Macht toben konnte. Der verheerende Orkan ›Lothar‹
hatte am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1999 den nahegelegenen Fichtenwald
vollständig zerstört.
Martin Kälberer, ein Mann mittleren Alters,
war müde, als er an diesem Junimorgen auf die Hochfläche hinausblickte, die gerade
von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurde. Es war zehn nach sechs. Eigentlich
hätte ihn sein Kollege Max Autenrieter längst ablösen sollen. Kälberer wunderte
sich, wo er blieb. Wenn etwas dazwischen kam, das hatten die sechs Männer miteinander
vereinbart, würden sie rechtzeitig Bescheid sagen. Doch Autenrieter hatte sich nicht
gemeldet.
Kälberer setzte sich noch einmal an den Computer,
um statistische Daten der vergangenen Junitage aufzurufen. Die Temperatur-Kurve
zeigte nach oben. Und auch die vergangene Nacht war ungewöhnlich mild gewesen. Allerdings
hatten die Tiefstwerte ausgereicht, dass sich zumindest auf der Hochfläche Tau bilden
konnte.
Noch während sich der Wetterexperte mit den
kurz geschnittenen Haaren und den beiden silbernen Ringen im linken Ohr in seine
Daten vertiefte, hörte er, wie drunten die Haupteingangstür aufgeschlossen wurde.
Er stand auf, packte eilig einige Utensilien in seine Aktentasche und ging seinem
Kollegen ein Stück entgegen. Er hörte die Holztreppen knarren und hatte gerade die
Tür zum Flur erreicht, als diese geöffnet wurde.
»Hey«, sagte Autenrieter, ein junger schlaksiger
Kollege, der nun auch schon das dritte Jahr zur Mannschaft der Wetterstation gehörte.
»Hallo«, erwiderte Kälberer einsilbig. »Ich
lass’ dich gleich allein.
„Schönes Schaffen.«
»Entschuldige, ich hab’ mich ein bisschen verspätet.«
»Schon gut, macht ja nichts«, sagte der Nachtdienstler
und ging an ihm vorbei die Treppe hinab.
Drunten im Tal lagen die Temperaturen bereits ein paar Grad höher.
Der Leichenbestatter war inzwischen mit seinem schwarz-grauen Daimler-Kombi eingetroffen.
Der diensthabende Kriminalist, August Häberle, kam gerade schweißnass vom Steilhang
zurück, um seinem uniformierten Kollegen Missler die neuesten Erkenntnisse zu berichten:
»Papiere hat der Tote keine dabei, nimmt ja auch kein Mensch zum Joggen mit. Aber
die Rotkreuzler und die Feuerwehrleute meinen, ihn zu kennen.«
Missler staunte. »Und?«
»Wenn sich die Jungs nicht täuschen, dann handelt
es sich um den Bruder von Stadtrat Fronbauer.
»Ach?« Missler kannte den Stadtrat, ein angesehener
Mann in der Stadt, wenn auch nicht ganz unumstritten. Die Polizisten und einige
Schaulustige hatten zugehört und es entstand sofort ein Murmeln. Man witterte eine
Sensation.
»Und was macht die Kollegen so sicher?«, fragte
Missler nach.
»Der Mann soll in Ulm eine Diskothek betreiben,
offenbar einen beliebten Schuppen.« Häberle wischte sich den Schweiß von der Stirn
und spürte, wie Hemd und Jackett am Körper klebten.
»Angehörige? Verheiratet?«, fragte Missler
nach.
»Nein, der Mann war Single.«
»Das heißt, wir müssen seinen Bruder ausfindig
machen?«
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte der Kriminalist.
Er hasste diese Aufgabe. Nichts war ihm in all den Jahren seiner Tätigkeit unangenehmer,
als Angehörige von Verstorbenen zu verständigen. »Haben Sie eine
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