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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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musst gehen!«
    Es war so absurd, dass ich lächeln musste, obwohl dazu wirklich kein Grund bestand. Wahrscheinlich eine instinktive körperliche Reaktion, ähnlich wie bei Katzen, die in Todesangst zur Selbstberuhigung manchmal schnurren. Ich versuchte Marlon zu umarmen, doch er verzog vor Schmerz das Gesicht, weil ich so unbeholfen vorging.
    Als es plötzlich in meinem Rücken knallte, glaubte ich für ein paar Sekunden tatsächlich, Olivier würde uns beide erschießen. Ich fragte mich, ob ich Licht sehen, Bedauern oder Schmerz spüren würde. Dann streifte ein Luftschwall meine Schulter. Olivier hatte nicht geschossen, er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen.
    Â»Du bist das dümmste Wesen unter den Sternen.« Marlon wandte den Blick ab und zog die Beine an den Körper.
    Ich vernahm jeden seiner schweren Atemzüge. Und Atemzug um Atemzug vernahm ich auch die Anklage hinter seinen Worten. Ich begriff meinen Fehler. Wäre ich weggelaufen, hätte ich Hilfe holen können. Die Harpyien, die Polizei, wen auch immer. Ich hatte die Chance bekommen, ihn zu retten. Und sie ziehen lassen. Sie abgewiesen. Weggestoßen. Ein eisiges Zittern lief meine Wirbelsäule hinauf und hinunter. Ich rutschte ein Stück von Marlon weg, lehnte den Kopf an die Wand und versuchte krampfhaft, an etwas anderes zu denken als an das Pfeifen in meinem Kopf. Es wurde zu einer höhnischen Melodie, die vom Versagen sang.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. War ich eingenickt? Sah ganz so aus. Das Pfeifen hatte nachgelassen. Rauer Stoff berührte mein Gesicht. Ich lag mit dem Kopf in Marlons Schoß, mit seinen Fingern kühlte er meine Wange. Der tote Vogel lag von meinem feuchten T-Shirt bedeckt in der anderen Ecke der Garage.
    Â»Es tut mir leid«, flüsterte ich. »Ich hätte gehen und Hilfe holen müssen –«
    Â»Schsch.« Erstaunlich, wie sanft sein Lächeln wirkte, auch wenn er mit all dem Blut und den Schwellungen im Gesicht aussah wie der Terrorist, für den ich ihn mal gehalten hatte. »Du hast ihn beeindruckt. Er glaubt dir.«
    Â»Wen meinst du? Olivier?«
    Â»Wen denn sonst. Er hat das Lied erkannt, das Kinderlied seiner Mutter.«
    Ich grübelte. »Das habe ich gesungen? Ich kann mich kaum erinnern.«
    Â»Ich habe es auch gesungen. Direkt in seinen Kopf, kurz bevor er ausgerastet ist. Aber geglaubt hat er dir, nicht mir. Du singst offenbar schöner als ich.« Er machte eine Pause, strich meine Augenbraue mit der Kuppe seines Zeigefingers nach. »Hast du mir denn geglaubt?«
    Â»Dass du mich nur benutzt? Ja. Und nein. Es ist mir egal, es ändert nichts. Ich will, dass du hier rauskommst. Ohne dich gehe ich nicht.«
    Er schluckte so schwer, dass ich es hören konnte. »Das wirst du müssen, fürchte ich. Jetzt mach die Augen zu, okay? Ich möchte dich anschauen.«
    Ich gehorchte und schwieg, weil alles, was ich hätte erwidern können, hohle Phrasen gewesen wären.
    Ein Geräusch weckte mich, das ich zunächst nicht lokalisieren konnte. Dann begriff ich, dass Marlon den Atem anhielt und das Geräusch Stille war.
    Â»Ist alles in Ordnung?«
    Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Dunkelheit rahmte Stephan Oliviers Silhouette ein, es musste tiefe Nacht sein.
    Zielstrebig trat er auf uns zu. Wir hatten Mühe, auf die Füße zu kommen. Meine Gelenke stachen vor Steifheit. Marlon biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, nicht um mich festzuhalten, sondern um mich von sich wegzuschieben, sollte es nötig werden. Unmittelbar vor uns blieb Olivier stehen.
    Â»Wenn du gelogen hast, Bastard, dann werde ich jeden vermaledeiten Vogel auf dieser Welt vom Himmel holen. Ich krieg dich in die Finger, wenn du mich linkst, glaub mir.«
    Unfähig zu begreifen, was vor sich ging, starrte ich von einem zum anderen. Marlon nickte, als verhandle er nur ein harmloses Geschäft. Aber ich sah seinen Puls so hart an seinem Hals hämmern, dass ich befürchtete, er würde in Ohnmacht fallen.
    Â»Ihr … Du lässt uns gehen?« Ich versuchte, kein Ja zu erwarten. Zertretene Hoffnungen taten mehr weh als konstante Aussichtslosigkeit.
    Doch Olivier spiegelte Marlons kühles Nicken. Ob er uns wirklich glaubte oder ob die Schuld an Anna-Lenas Tod an ihm fraß und er diese durch unsere Freilassung zu sühnen versuchte,

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