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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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wusste ich nicht. Es war mir auch völlig egal.
    Das Frettchen schaute aus Oliviers Sweatweste. Ich hatte immer ein wenig Angst vor dem Tier gehabt. Frettchen sind doch Eierräuber – das klassische Haustier, wenn man Vögel jagte –, außerdem haben sie so einen hinterlistigen Blick. Aber in diesem Moment wurde mir klar, dass Stephan Olivier es vielleicht nur deshalb bei sich trug, weil er sich einsam fühlte.
    Wir traten zur Tür, meine Knie wabbelten wie Wackelpudding. Draußen war es so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte.
    Â»Geh nach Westen, dort liegt die Stadt«, sagte Olivier zu Marlon. »Mein General wird nicht vor Mittag von deinem Verschwinden erfahren. Bis dahin solltest du dich unsichtbar gemacht haben. Ich hoffe für dich, dass das, was du über meine Mutter gesagt hast, keine Lüge war. Denn ansonsten wirst du eines Tages schwer bedauern, dass ich dich nicht sofort erschossen habe.«
    Â»Deine Antworten liegen auf dem Grund des Löwenbrunnens. Dort ist eine Pforte. Im Stein. Ich gehe davon aus, dass du sie passieren kannst. Du wirst deine Mutter erkennen, aber erwarte nicht, dass sie sein wird wie zuvor. Und sei vorsichtig, es ist nicht ungefährlich.« Marlon sprach ohne jedes Stottern, ohne eine Betonung. Emotionslos erfüllte er seinen Teil der stumm geschlossenen Abmachung. Dann nahm er meine Hand, betrachtete meine Finger im schwachen Licht, das aus der Garage drang. »Ich bin dir zu Dank verpflichtet. Du hast Noa gerettet, in der U-Bahn. Ich schulde dir etwas.«
    Oliviers Blick fing mich ein wie ein Netz, wie gedankenverloren kraulte er das Frettchen. »Ich hätte dir nicht geholfen, wenn ich gewusst hätte, was aus dir werden würde. Das weißt du, oder?«
    Ich nickte. Trotzdem hatte ich eine erste Verbindung geschaffen zwischen diesen Männern, die sich als Feinde gegenüberstanden, aber ihren Krieg für einen Moment vergaßen. Weil sie eine Entscheidung trafen, die weder richtig noch falsch war und vielleicht die nächste Katastrophe heraufbeschwor. Aus nichts als einem Quäntchen guten Willens heraus. Aus Bereitschaft, dem anderen zu glauben.
    War das nicht das Wichtigste?

 

    Wie man Abschied nimmt
    Wir sahen uns nicht um, sondern eilten, so schnell Marlon laufen konnte, in die Dunkelheit. Die Nacht war finster und die Flucht kostete uns unsere ganze Kraft, sodass kaum mehr als Schwärze in meiner Erinnerung zurückblieb. Der Schock ebbte ab, Erschöpfung flutete meinen Kopf. Ich stolperte voran wie von einer höheren Macht an Fäden über den Boden geschleift.
    Aus einem Garten, in dem jemand die Wäsche über Nacht auf der Leine gelassen hatte, klauten wir zwei Männerhemden gegen die Kälte. Wir erreichten das Hotel, als der frühe Morgen durch die Straßen kroch und alles in ein bleichgraues Licht tunkte. Hineinzugehen schien uns zu riskant und so holten wir nur das Auto und fuhren auf schnellstem Weg aus der Stadt.
    Wir flüchteten ins Landesinnere. Falls es ein Ziel gab, dann wusste ich nicht, wo es lag. Wir flohen vor dem Ort, der nach Marlon verlangte, den Jägern sowie den Erinnerungen an vergangene Nacht und jagten selbst das letzte bisschen Zeit, das uns noch blieb, vor uns her.
    An einer Autobahnraststätte hielten wir an, benutzten die Fernfahrerduschen und trafen uns anschließend im Restaurant, um etwas zu essen. Viele Reisende hatten dieselbe Idee – wir mussten uns in eine lange Schlange einreihen und standen dort wie auf dem Präsentierteller. Marlons linke Gesichtshälfte schillerte in besorgniserregenden Farben, und so blass und übernächtigt, wie wir in den identischen XXL-Altherrenhemden, die wir am Leib trugen, wirkten, sahen wir vermutlich wie drogensüchtige Ausreißerkids aus. Marlon bemühte sich um Unauffälligkeit, aber seine Blicke schossen angsterfroren im Raum umher. Die Leute starrten uns an, was man ihnen kaum verübeln konnte. Ich tat es trotzdem. Ich hasste ihr neugieriges Gaffen und wünschte jedem Einzelnen im Stillen die Pest an den Hals.
    Â»Lass uns gehen«, flüsterte ich mit zusammengebissenen Zähnen.
    Â»Hast du keinen Hunger?«
    Was für eine Frage! Ich hatte seit dem Frühstück gestern nichts mehr gegessen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so lange nichts gegessen zu haben; ich hätte nicht einmal angenommen, dass ich derart langes Fasten überleben würde.

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