Himmelsfern
hat.«
Marlon stieà den Hauch eines bösen Lachens hervor. »Wer hat dir diese Märchen erzählt? Dein Vater?«
Oliviers Miene wurde frostig. Helle Punkte tanzten in seinen blauen Augen, als schneite es in seinen Gedanken. »Haltâs Maul.«
»Du weiÃt, wer deine Mutter ist«, fuhr Marlon fort. »In deinen Adern flieÃt das Blut derer, die du so verabscheust.«
»Schnauze!« Eine Zornesfalte zerfurchte Oliviers Stirn. Diese menschliche Regung besorgte und beruhigte mich gleichermaÃen. Er war keine Maschine. Er war ein Mensch. Unberechenbar. Ich hatte Angst um Marlon und zugleich schwoll Hoffnung in mir an. Marlon kämpfte.
»Du spürst es doch, nicht wahr?« Marlon lächelte wissend. »Du hörst die Stimmen in den Steinen. Ist das nicht Beweis genug?« Er bluffte. Ich hörte die Stimmen auch, man musste dazu kein Harpyienblut in sich haben. Doch Stephan Olivier wusste das offenbar nicht. Er wurde blass.
»Wir haben deine Mutter gesehen«, sagte ich zu ihm. »Sie hat nie aufgehört, nach dir zu suchen.«
Er fasste mich hart an der Schulter. »Meine Mutter wurde von ihnen geraubt. Sie haben sie uns weggenommen, verstehst du? Sie einer Gehirnwäsche unterzogen und sie zu einem Tier gemacht. Dir blüht dasselbe. Dir und vielen anderen, wenn wir sie nicht aufhalten.«
»Das ist gelogen.« Ich wagte nur zu flüstern. Olivier schien so erregt, dass ich Angst hatte, er würde gleich den Verstand verlieren. Ich sah die Pistole warnend in seinem Hüftholster stecken.
»Deine Mutter wollte sich von deinem Vater trennen«, sprach Marlon weiter. »Aber er war ein herrschsüchtiger, eifersüchtiger Mann und hat sich gerächt. Er hat dich entführt, als du ein kleiner Junge warst.«
Erinnere dich!, betete ich still.
Ich stand auf, meine Scherbe fiel aus den Falten meines Rockes und klimperte über den Boden. Ich stellte den Fuà darauf â ein armseliger Versuch, sie zu verbergen â, doch Stephan Olivier achtete nicht auf mich. Er schritt gefährlich langsam auf Marlon zu. In meiner Brust brannte es, ich konnte mich nicht erinnern, jemals mehr Angst und Hoffnung zugleich verspürt zu haben. Das eine Gefühl nährte das andere.
Marlon atmete tief ein und langsam wieder aus. »Die Harpyien, mit denen deine Mutter fortging, fingen sie auf, nachdem dein Vater sie ins Bodenlose gestürzt hatte. Deine Mutter wurde nicht geraubt. Sie wählte.«
»Du verlogener Bastard!«, spuckte Olivier ihm ins Gesicht. »Spar dir deine Geschichten. Damit kannst du kleine Mädchen beeindrucken, aber nicht mich.«
»Sieh den Tatsachen ins Auge, Stephan Olivier. Wir sind, wer wir sind. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich mich in einen Vogel verwandle.« Er deutete zu mir. »Ich kann nichts dagegen tun, dass sie ein Mensch bleiben wird. Ich könnte sie nicht verwandeln, selbst wenn ich es wollte. Ich will, glaub mir, aber es ist nicht möglich. Ich kann nichts dagegen tun, dass ich sie sehr bald verlieren werde. Und du kannst nichts dagegen tun, dass deine Mutter von meiner Art ist.« Sein Blick fiel auf den toten Raben zu seinen FüÃen. »Und von seiner. In ihrem Elend hat sie sich für ein Leben als Vogel entschieden. Dein Vater hat sie nicht brechen können, er hat sie vertrieben.«
Ich zwang mich zu sprechen, in unkontrollierten Schlangenlinien an dem Kloà aus Angst in meiner Kehle vorbei. »Stephan, du bist der Einzige von uns, der eine Wahl hat, der frei entscheiden kann.«
Olivier reagierte nicht. Wusste er vom Schicksal seiner Mutter? Ahnte er es, irgendwo tief in seinem Inneren? Möglicherweise hatte er ihr Lied im Stein ebenso gehört wie wir.
»Ihr benutzt die Menschen nur«, erwiderte er schlieÃlich, doch sein langes Schweigen hatte seine Stimme brüchig gemacht. Der Satz war nicht echt und das begann nun auch er einzusehen.
Marlon schüttelte den Kopf. »Ich schlieÃe nicht aus, dass es Harpyien gibt, die das tun. Aber ich nicht, meine Schwester nicht und mein Bruder nicht. Du bist es, mit dem gespielt wurde. Auf Menschenart. Ganz ohne Magie, nur durch Lügen und Gerüchte.« Marlon bewegte die Lippen weiter, aber ich hörte keinen Laut mehr. Dafür weiteten sich die Augen seines Gegenübers in ungläubigem Staunen. Ich wusste, was Marlon tat. Er sprach über das Echo der Steine direkt in Oliviers Kopf.
»Nein!«
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