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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Hand nach ihm aus.
    Da richtete er sich plötzlich zu seiner ganzen Größe auf und streckte die Flügel zu beiden Seiten aus. Ein fauchender Laut stieß mir entgegen. Mein Körper wich zurück, ehe mein Verstand begriff, was geschah. Er drohte mir. Ich war eine Fremde, die seine Sicherheit gefährdete, und er verteidigte sich.
    Er hatte mich vergessen. Innerhalb von Sekunden. Schlimmer noch, er hatte sich vergessen. Ich vergaß, wie man sprach, wie man weinte oder nur atmete.
    Der Schwarm entfernte sich in Richtung Horizont. Die Vogelschreie wurden leiser und statt einzelner Körper konnte ich nur noch eine große, dunkle Masse erkennen.
    Marlon sah ihnen nach, der Schnabel deutete wie ein Teleskop in Richtung des Himmels. Seine Schwingen zuckten, als hätte er sie nicht unter Kontrolle. Er hüpfte ihnen hinterher, bis die Wellen gegen seine Brust schwappten.
    Â»Du musst fliegen!«, rief ich.
    Sein Kopf ruckte herum, er hackte warnend mit dem Schnabel in die Luft. Er wollte leben und das jagte Mut durch meine Adern. Aber irgendetwas schien ihn aufzuhalten. Er zögerte viel zu lange.
    Â»Sie fliegen ohne dich! Siehst du das denn nicht? Dann war alles umsonst. Das tust du mir nicht an!« Ich packte meine Schuhe an den Schnürsenkeln, schwang sie wie ein Lasso über dem Kopf, rannte auf ihn zu und brüllte wie von Sinnen. »Nun hau auch ab! Verschwinde! Du wirst nicht hierbleiben, um zu sterben! Das lasse ich nicht zu! Flieg endlich, du bescheuerter Vogel!«
    Er ergriff die Flucht, schlug mit den Flügeln, während er hüpfend durchs flache Wasser floh.
    Ich warf einen Schuh, verfehlte Marlon um Haaresbreite und er erhob sich in die Luft. Ein schwankender Halbkreis und ein erbostes Kreischen folgten, dann nahm er Kurs auf den Horizont und flog seinem Schwarm hinterher.
    Ich blieb allein zurück.

 

    Vom Weitermachen
    Es fällt mir schwer zu beschreiben, was in dieser Nacht geschah. Erinnerungen sind unzuverlässig, wenn sich der Verstand weigert, Geschehnisse zu bewahren, weil diese auf den ersten Blick nichts Bewahrenswertes an sich haben. Vergessen wäre einfacher. Doch ich weiß zu gut um die Bedeutung von Erinnerungen, als dass ich den einfachen Weg gehen würde.
    Ich erinnere mich, dass ich nicht stehen blieb, nicht stehen bleiben konnte. Hätte ich angehalten, wäre ich zusammengebrochen. Stattdessen rannte ich den Strand entlang. Ich rannte, bis Marlons kleine Silhouette mit der großen des Schwarms verschmolzen war. Ich rannte, bis meine Oberschenkel in Flammen standen, und ich rannte noch, als ich so erschöpft war, dass ich alle paar Meter stürzte und in den harten, nassen Sand fiel. Ich rannte so lange, bis der Schwarm in die Dunkelheit am Firmament eingetaucht und nichts mehr von ihm zurückgeblieben war. Um Luft ringend, das Gesicht nass von Schweiß und Tränen, stolperte ich fort vom Meer, pflügte den ganzen langen Weg durch den tiefen Sand zurück und spürte kaum, wie mir Strandgras und Muschelscherben die Haut zwischen den Zehen aufschlitzten.
    Auf blutenden Füßen rannte ich über den Deich und krachte auf die Knie. Ich erinnere mich, dass mein Vater und Dominic dort auf mich warteten, und ich erinnere mich, dass ich in haltloses Weinen ausbrach, als mir klar wurde, warum sie gekommen waren. Wer mich zum Bulli trug, in welches Hotel wir fuhren, wann ich einschlief und wieder aufwachte, versank in Vergessen. Grausam klar blieb, dass Marlon sie angerufen hatte. Seine letzten Telefonate betrafen nicht seine Vergangenheit und seine Ängste. Stattdessen meine Zukunft und meine Sicherheit.
    Ich erfuhr nie, was er ihnen erzählt hatte, aber niemand stellte mir Fragen. Als ich bereit war zu reden und die Wahrheit erzählte, weil es zu anstrengend gewesen wäre, mir Lügen auszudenken, geschah etwas vollkommen Undenkbares.
    Sie glaubten mir.
    * * *
    Wenn schlimme Dinge passieren, verzerrt sich oft das, was man für die Realität hält. Man braucht kein ausgeprägter Egomane zu sein, um den Eindruck zu bekommen, die Welt müsse doch anhalten oder zumindest stocken, weil das Bild, das man von ihr hat, aus den Fugen geraten ist und nun haltlos im Wind treibt. In Katastrophen begreift der Mensch, was für ein kleines Licht er ist, denn während das eigene flackert und ums Überleben kämpft, leuchten alle anderen umso heller weiter. Was gut ist, denn sie müssen ja für den einen

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