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Himmelsfern

Himmelsfern

Titel: Himmelsfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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mitleuchten. Den Ausfall wettmachen.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich hinter der Diagnose Schock versteckte, mich im Dunkeln verkroch und aller Welt ihr Leuchten missgönnte. Ich erinnere mich nicht an diese Tage. Nur an den einen, als ich beschloss, dass es nun genug war. Ich war auf dem besten Weg, das Opfer zu werden, das ich nie hatte sein wollen. Das war zu viel Schuld, um sie auf Marlons Schultern abzulegen. Dazu waren sie zu fragil.
    Ich musste mit jemandem reden. Blieb nur die Frage, mit wem?
    Der wissende Blick meiner Oma gab mir Antwort, als ich sie besuchte.
    Â»Er ist fort, nicht wahr?« Sie sah mich dabei nicht an. »Jetzt ist er endgültig fort. Aber du bist hiergeblieben.« Es klang, als würde sie das bedauern. Eine Träne rann über ihre Wange, floss durch die Falten ihrer Haut wie Wasser durch einen Kanal. Als die Träne von ihrem Kinn in ihren Schoß tropfte, begriff ich.
    Â»Du weißt, was er ist. Du wusstest es von Anfang an.«
    Sie wischte sich mit ihrem Tuch übers Gesicht. »Es war nur eine Ahnung. Ich wollte es nicht glauben, Noa. Verzeih mir.«
    Â»Woher wusstest du es?«
    Â»Ich war auch mal jung, Herzchen. Ich war wie du.«
    Sie verriet mir nie, wie der Mann hieß, der ihr Herz mit in den Himmel genommen hatte. Sie behauptete, sich kaum noch an ihn zu erinnern und dass er ihr nichts zurückgelassen hatte als Leid, das sie mit ihrem Ehrgeiz, ihrer Arbeit und ihrer späteren Ehe überdeckt hatte, bis sie es nicht mehr fühlte. Bis sie überhaupt nichts mehr fühlte.
    Oma empfahl mir, Briefe zu schreiben und sie zu verbrennen, damit sie in den Himmel stiegen.
    Es gelang ihr nicht, ihre Angst zu verbergen, Marlon hätte zu viel von meiner Seele mit sich ins Nirgendwo genommen. Ich sprach es nicht aus, ertappte mich aber bei dem Wunsch, er hätte es getan. Kurze Gedanken, schnell wieder fortgewischt, denn ich durfte ja nicht aufgeben. Ich war kein Opfer, nicht einmal das meiner eigenen Gefühle.
    Â»Er ist nicht fort«, stellte ich mit gestrafften Schultern klar und meine Oma sank in sich zusammen. »Er ist einfach nur woanders.«
    Doch ihren Rat nahm ich sofort an. Die E-Mail-Adresse [email protected] existierte noch.
    Also schrieb ich ihm.
    Ich schrieb ihm E-Mails, bis Corinna mir ein paar Tage vor ihrer Verlobung mit meinem Vater ein hübsch gebundenes Notizbuch mit einem Schloss daran schenkte. Von da an schrieb ich alles in dieses Buch, was ich Marlon sagen wollte. Meine Sehnsüchte. Meine Träume. Mein schlechtes Gewissen, weil ich es nicht über mich brachte, Corinna zu erzählen, dass Cat Stevens tot war. Ich schrieb ihm einen endlosen Brief, als man Stephan Oliviers Leiche im Brunnen fand und noch Wochen später über diesen mysteriösen Todesfall rätselte. Ob er bei seiner Mutter in der steinernen Welt geblieben ist?, fragte ich Marlon. Ob er eine Wahl hatte? Ich brachte zu Papier, wie sehr mich Oliviers Tod berührte, auch wenn ich nicht behaupten konnte, dass es mir um ihn leidtat. Immer wieder schrieb ich, dass ich nach Steinen suchte, die zu mir sangen, doch nie mehr fündig wurde. Seitenlang berichtete ich ihm vom ersten Schnee, der so heftig über die Stadt herfiel, dass der Kanal über die Ufer trat und die Hundestatue, an der wir uns einst getroffen hatten, unterspülte, sodass sie ins Wasser stürzte und versank. Als die Stanzerei geschlossen wurde und die Stadt ihren nächtlichen Herzschlag verlor, erfuhr einzig und allein das Buch, wie sehr mir das permanente Pmpf-pmpf-pfmp fehlte. Ich schrieb von meinem Date mit Lukas, das einem Desaster glich, da sein Zimmer nach Katzenpisse stank, was umso schlimmer war, da er keine Katze hatte. Meine Handschrift füllte Blatt um Blatt mit Aufzeichnungen über meine Poi-Auftritte und bald kamen erste Zeitungsartikel dazu. Ich klebte Fotos von der neuen, größeren Wohnung ein, die wir nach Papas Hochzeit bezogen, und erzählte vom Abriss der Schrebergärten im Jahr darauf.
    Ich kaufte ein neues Buch, als das erste voll war, darauf ein weiteres und noch eins.
    Ich schrieb von dem ignorierten Meisenknödel an meinem neuen Fenster – und musste lachen – sowie von meinem ersten Auto, einem Fiat – und musste weinen. Manchmal schrieb ich einfach nur um des Schreibens willen. Weil in diesen wenigen Minuten alles, was wir gemeinsam erlebt hatten, wieder real und greifbar war, während es abseits der

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