Himmelsfern
Seiten schien, als wären meine Erinnerungen nichts als Illusionen und Marlon nie bei mir gewesen.
Ich schrieb unsere Geschichte auf, angefangen beim ersten stockenden Gefühl in der U-Bahn.
Je mehr Erinnerungen ich auf die Seiten bannte, umso leichter wurde es weiterzuleben. Ich litt Höllenqualen, wenn ich Marlon schrieb, wie sehr er mir fehlte, doch ich lernte, den Schmerz zwischen den Buchdeckeln zu lassen, sobald ich diese zuschlug. Den Schmerz, aber nicht meine Erinnerungen und Erwartungen. Es gab so viel zu tun, so viel Leben auszufüllen. Es tat beinahe weh, zu begreifen, dass ich ohne ihn überleben konnte, und auch das schrieb ich ihm, in der Hoffnung, es wäre ein Trost für ihn oder würde ihn so wütend machen, dass er zurückkam.
Ich schrieb ihm, dass ich wieder mehr mit meiner Mutter redete, die zwar in Asien lebte und damit vermutlich weiter von mir entfernt war als er, doch wenigstens meine Sprache verstand.
Jedes Jahr verfasste ich einen langen Brief mit seinem Füllfederhalter, die Tinte gelöscht mit Sand, auf den der Vollmond der Lammas-Nacht geschienen hatte. Die Briefe endeten stets mit denselben Worten: Dann kommst du eben nächstes Jahr.
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Ich bin zum letzten Mal am Strand. Die letzte Lammas-Nacht â das habe ich mir geschworen. Vage erinnere ich mich, mir im letzten Jahr etwas Ãhnliches vorgenommen zu haben.
Doch die Stimmen werden lauter, die mir sagen, dass ich aufgeben muss.
Er kommt nicht zurück, Noa. Nie.
Sie sind so laut geworden, dass ich seine darunter nicht mehr höre. Ich habe vergessen, wie sie klingt. Zuerst verloren sich die Details, die kleinen Unterschiede im Tonfall, wenn Marlon seine Belustigung hinter einem Mundverziehen verbarg oder seine Angst mit Kälte maskierte. SchlieÃlich vergaà ich, wie er die T und D betont hatte. Ich wusste, dass da eine Besonderheit gewesen war, die mich an einen spanischen Akzent erinnert hatte, aber ich konnte mich nicht mehr an den genauen Klang erinnern.
Inzwischen weià ich kaum noch, wie er aussah. Es ist, als läge meine Erinnerung an einem Ort, den man nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt. Dreht man sich hin, verschwindet das Bild, so wie sich ein Traum beim Erwachen auflöst. Alles, was man nicht halten kann, löst sich auf, und irgendwann muss man es ziehen lassen.
So ist Marlon.
Mein Blick schweift übers Meer, das rau ist in dieser Nacht. Ich höre mich flüstern, völlig ungewollt, meine Stimme nur ein Säuseln vor dem Lied, das die Wellen singen.
»Wo bist du? Was denkst du, wenn du in den Himmel siehst? Siehst du noch, dass die Sterne dir einen Weg zeigen? Oder hat er dich woanders hingeführt und es war nie deine Bestimmung zurückzukommen? Zu mir â¦Â«
Das Meer spiegelt sich im Himmel. Rauchgraue Wolken, die das Firmament verschleiern. Der Mond ist dahinter nur zu erahnen, von Sternen nichts zu sehen. Wie soll er da den Weg finden? Meine bloÃen FüÃe hinterlassen Spuren im nassen Sand, die von den Wellen wieder ausgewaschen werden. Wie soll ich den Weg zurück finden?
So viel ist geschehen in den letzten neun Jahren. Teure Hotels und Restaurants machen mir schon lange keine Angst mehr, weil ich in ihnen ein und aus gehe. Der Traum von einer Karriere als Schauspielerin hat sich nicht erfüllt â gescheitert an meinem bekannten Problem, mir die Texte zu merken. Am Theater bin ich trotzdem. Als Regieassistentin, mit dem festen Ziel, die Assistentin bald hinter mir zu lassen. Ich gehe meinen Weg.
Doch in jeder ersten Vollmondnacht im August fühle ich diesen Weg unter meinen FüÃen zerbrechen. Bemerke, dass er nur aus Sand ist, nicht aus Stein. Sehe, was mir fehlt. Halt. Und falle auf die Knie.
Das muss aufhören, sagen meine Freunde. Dominic und Rosalia haben mich einige Male an die Küste begleitet. Dieses Jahr ist Rosa auf einer Messe in den Staaten. Dominic ist bei seiner Frau, die in wenigen Tagen ein Baby erwartet, mein zweites Patenkind. Oh, auch ich hatte Beziehungen, so ist es nicht. Aber keinem anderen Mann ist es gelungen, mich mit trockenen Kommentaren zum Lachen zu bringen, bis mir die Tränen kommen, keinen habe ich wegen seiner zu groÃen FüÃe geliebt und keiner sieht mich so an, dass es mich erschöpft. Keinem würde ich verzeihen, ein Terrorist zu sein, und keinem, den Abzug nicht zu drücken, obwohl er mich beschützen muss. Ich bin eine gute Freundin und eine gute
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