Himmelsmechanik (German Edition)
weggehen, weil er für den Krieg gewesen war, und der Krieg war verloren. Sie konnten nicht mehr hier bleiben. Er und meine Mutter, denn ohne sie ging der Mann in einem Glas Wasser unter. Sie haben mich nicht allein gelassen, ich war es, die bleiben wollte: Ich war ja schon groß. Er hat nie jemandem etwas Böses getan, später hätte er zurückkommen können. Aber wer weiß.
Doch wenn Söhne von ihren Vätern sprechen, erzählen sie blutrünstige Märchen und edelmütige Legenden, von Sehnsucht und Reue, Rache und Erbarmen. Söhne sprechen von Vätern, groß wie Riesen, sanft wie weiße Rinder, sie sprechen von ihren großen Werken und von riesigem Elend. Sie zeichnen zweifelhafte Fresken von mit Türmen bewehrtem Ehestand, und sie sprechen davon, wie sie sie fressen wollten, als sie gerade neugeborene Kinder waren, davon, wie sie kräftige Muskeln von ihrem eigenen Fleisch gaben, damit diese sich ernährten und wuchsen. Sie erzählen von ihren eigenen Augen, die den Mythos gesehen haben. Ein Sohn spricht nicht von dem, was sein Vater gewesen ist, sondern von dem, was er über sich selbst und über ihn geträumt hat.
Aber worüber spricht eine Tochter, wenn sie ihrem Sohn, dem Enkel ihres Vaters, sagt, dass der Großvater, von dem er nichts weiß, ein Faschist der ersten Stunde war? Und der Enkel erinnert sich noch heute nicht, ob er damals auch nur die geringste Ahnung vom Faschismus und seinen Stunden hatte. Damals, als schon alles vorbei war, nachdem nichts mehr da war, was hätte gerettet werden können, auch nicht aus Tochterliebe. Sie spricht von dem, was weder sie noch das Kind damals irgendwo unterbringen konnten. Sie spricht nicht von Märchen und Legenden, sondern von der Geschichte der Menschen. Man hält keinen Geschichtsunterricht über den Kopf eines Vaters hinweg, nicht einmal die Lehrerin Duse kann das. Alles, was sie kann, kraft ihrer Liebe zu den Dingen, wie sie sind, ist das, was sie muss: die Worte nacheinander sagen, schön deutlich, damit sie bleiben. Bleiben, auch wenn sie im Moment nicht verstanden werden. Das ist ihre Aufgabe. Und dann weiß der Sohn, was er daraus machen soll: Sein Seelchen verdient höchstes Vertrauen. Wie ich schon sagte, habe ich diesen Mann dann nie kennengelernt, und auch heute hege ich ihm gegen-über keinerlei Feindschaft und kein Gefühl: Er ist nur die Worte meiner Mutter. Ich habe meine Vorstellungen über den Grund, warum er sich nie blicken ließ; weder er noch seine Frau, nicht einmal, um das Wirtshaus zu verlangen, das ihm zustand, in Zeiten, als alle ohne Scham etwas verlangt und ohne Zurückhaltung bekommen haben. Doch meine Vorstellungen habe ich für mich behalten; übrigens wusste die Duse sicher alles über sie und wo sie gelandet waren, und wenn sie mit mir darüber nie sprechen wollte, wird sie schon ihre Gründe gehabt haben.
Und an jenem Abend erzählte sie nur weiter.
Sie gaben ihr den Namen Duse, weil ihr Vater die große Schauspielerin Eleonora Duse verehrte; er war sogar in Neapel gewesen, um sie spielen zu sehen, und dann noch an jedem Ort, den er damals erreichen konnte. Ihre Mutter hatte Angst, dass er sich in sie verliebt hatte; und da er ein eigensinniger Kopf war, weinte und weinte sie, zu Tode erschrocken, er könne von zu Hause weggehen und der Duse folgen. Aber das sind Liebschaften, vor denen man keine Angst zu haben braucht, sagte mir die Duse, das sind Liebschaften von Kindern. Nun wollte aber der Pfarrer sie nicht taufen, weil es keine Heilige im Kalender mit einem Namen gibt, der ihrem auch nur ein wenig ähnelt. So drohte ihr Vater damit, ihn aus dem Priesterstand ausschließen zu lassen, denn Mussolini persönlich würde zum Papst gehen, um ihn wegen dieser Geschichte zur Rede zu stellen, und wenn es im Kalender noch keine Heilige gebe, dann würde er eben eine darin aufnehmen lassen. Ihre Mutter verehrte diesen so aufrichtigen und willensstarken Mann und freundete sich, wenn auch in der Angst des Verdachts, den sie noch hegte, sogar mit dem Namen an, den er ihrer Tochter gab. So ist meine Mutter die einzige Duse Italiens. Sie liebten sie, und zwar sehr, betonte sie. Ihrem Vater war es natürlich wichtig, dass sie so tüchtig wie die Schauspielerin und sogar noch tüchtiger würde. Sie schickten sie nach Lucca in die Schule und ließen sie Musik studieren; sie stellten sich ein Klavier ins Haus, und es hatte den Anschein, als gäbe es nicht einmal im Teatro degli Impavidi ein gleichwertiges. Sie ließen sie sogar
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