Himmelsmechanik (German Edition)
ihn auf dem Gipfel eines Berges zurückließen, als sein Schweigen begann, auch gegenüber seiner Frau und seiner Tochter, die er dennoch auch weiterhin so sehr liebte. Und es kam der 8. September, und alle begriffen, auch die, die bisher so taten, als würden sie nichts begreifen. Es begriff auch die Duse, die immerhin schon sechzehn Jahre alt war, wenn sie die Reihe der deutschen Kettenfahrzeuge, winzig klein und dicht gedrängt wie Ameisen, betrachtete, die wie ein Klanggewitter den Carpinelli-Pass herunterkamen. Einige Tage später sagte ihr Vater, sie solle nicht mehr zur Gesangsstunde nach Lucca fahren, denn jetzt gebe es die faschistische Republik, und alle müssten jetzt Vernunft annehmen, wenn sie ein für alle Mal diesen Krieg gewinnen wollten. Und ging weg und ließ die Kellerschlüssel da und die Sonderlebensmittelkarte für die hohen Tiere; und blieb monatelang von zu Hause weg, im Norden, um diese neue Republik zu gründen. Als er am Ende jenes Winters zurückkam, war vor seinem Haus die Front. Da küsste der Vater als Erstes die Duse, bat sie um Verzeihung und verkaufte das Klavier an die Deutschen; dann begann er erneut, die Koffer zu packen: Alle zusammen müssten sie weggehen, um die Republik voranzubringen. Und die Duse fand heraus, dass sie auch mit siebzehn Jahren ihre Meinung sagen konnte. An jenem Tag ärgerte sie sich, und zum ersten Mal ließ sie es ihrem Vater gegenüber an Respekt fehlen. Nicht wegen des Klaviers, sondern weil sie etwas in seinem Gesicht entdeckt hatte, das sie sehr ärgerte: eine Unentschlossenheit, die sie nie zuvor gesehen hatte. Eine Unfähigkeit wie bei einem Jungen, ein Umherstreifen: Das war nicht mehr ihr Vater, sondern jemand, der eher einem kleinen Bruder ähnelte, dem man im ganzen Haus hinterher sein musste, damit er keinen Schaden anrichtete. Sie sah jenen Mann, der ihr die Tänzerinnen aus Bayern, die steinernen Rosen aus Libyen, das Veilchenparfüm aus Montenegro mitgebracht hatte, unsicher bei ihr zu Hause in der Schublade wühlen, während ihr Geist immer klarer und entschlossener wurde; in dieser so konfusen Situation war sie sicher, dass ihr Leben nicht am Ende war, sondern gerade erst begonnen hatte.
Sie sagte mir, dass man so zum Mann wird, und zur Frau: dass du plötzlich spürst, dass jetzt, und nur jetzt der richtige Moment ist, dein Leben zu beginnen, auch wenn es der falscheste Moment von allen zu sein scheint. Was suchte denn dieser Junge mit den gefärbten schwarzen Haaren, der sie nachts im Haarnetz einschloss, aus Angst, sie würden ihm davonlaufen? Wohin gedachte er seine Frau und seine Tochter zu bringen, wo man doch schon an der Art, wie er sich bewegte, während er die Dinge zum Mitnehmen einpackte, sah, dass er selbst nicht wusste, wohin er gehen sollte und warum? Dieser Junge redete und redete, doch er hatte Angst vor allem, auch vor dem, was er sagte. So sagte sie zu ihrem Vater, dass sie bleiben würde, dass sie ihn so lieb hätte, aber dass sie hier bleiben würde, auch ohne das Klavier. Ihre Mutter setzte sich auf einen Stuhl und weinte leise, aber weder sie noch er machten schließlich große Geschichten. Es stimmte ja, dass sie nicht wussten, was aus ihnen werden würde.
Die Front war zwar gefährlich, aber da war die Osteria del Ponte, und ein Wirtshaus ist ein sicherer Ort, im Frieden wie im Krieg; besser als das Rettungsboot eines Schiffes, noch besser als die Bunker, die sie auf den Gebirgskämmen gebaut hatten.
Also blieb sie da, und niemand wagte es, ihr Haus zu betreten oder sie auf der Straße anzuhalten oder auch nur ein böses Wort an sie zu richten. Die Hälfte des Hauses hatten die Deutschen requiriert, und dort wohnte ein Offizier mit seinem Burschen. Doch man sah sie nie; sie gingen durch die Hintertür hinein und hinaus und blieben absolut lautlos in ihren Zimmern: Vielleicht kamen sie nur zum Schlafen. Und ab und zu hinterließen sie auf dem Küchentisch ein Stück Butter oder ein paar Scheiben Leberwurst, ihre süßliche, scharfe Speise.
Die Duse brachte diese Dinge ins Wirtshaus, und dort blieb sie, um zu essen und die Bücher zu lesen, die ihr Vater zu Hause gelassen hatte; sie setzte sich jeden Tag mit einem neuen Buch auf einen Stuhl unter die Platane. Es war unglaublich, wie viele Bücher ihr Vater hatte lesen können, bevor er sie auf die Welt brachte, und es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass diese Bücher zu nichts anderem gedient hatten, als aus ihm einen Flüchtling zu machen, der nicht mehr wusste,
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