Himmelsmechanik (German Edition)
Gesangsunterricht nehmen.
Die Gesangsstunden nahm sie bei einer berühmten russischen Sängerin, die im Theater unterrichtete. Sie sagte mir, es gebe nichts Schlimmeres als diese Frau, die redete ohne die geringste Lust, verstanden zu werden, und lächerliche Reifröcke trug, als würde sie pausenlos
La Traviata
spielen, auch, wenn sie auf die Toilette ging. Sie sagte mir, es gebe nichts Widerwärtigeres, als ihre schmerzhaften, bösartigen Kopfnüsse zu bekommen, und nichts Lächerlicheres als ihre Frisur in Form eines Topfs, die sie immer mit hundert Haarklammern zusammenhielt. Aber sie konnte singen und einem etwas von ihrem Gesang beibringen. Und mit vierzehn Jahren war die Duse ein glückliches Mädchen, die in der Schule früher als die anderen das Examen machen würde, während sie ihre Zeit damit verbrachte, all das zu tun, was ihr schön und interessant erschien. Und sie wusste nicht, wo es ihr besser gefiel: in der Schule, beim Singen, bei den Aufmärschen der Giovani Italiane, im Wirtshaus ihrer Großmutter oder bei sich zu Hause.
Wo man ihren Vater selten sah, doch wenn er kam, hatte er immer etwas für seine Frauen dabei. Und das waren wertvolle Dinge, es genügte nicht, Funktionär der faschistischen Partei zu sein, um sie zu finden, sondern man musste seine Frauen auch sehr lieben, um sich bei der Suche Mühe zu geben. Die gläserne Blume, die noch über dem Sofa Licht spendete, hatte ihr Vater von einer Insel Venedigs mitgebracht. Und auch die Spieluhr, die sie auf der Kommode in ihrem Schlafzimmer stehen hatte, mit den Figuren zweier Tänzerinnen, die den Abschiedswalzer tanzten; dieser geheimnisvolle Mechanismus, den ich nicht in Bewegung setzen konnte, sondern ich musste immer warten, bis sie Lust hatte, ihn mir ein, zwei Mal im Jahr vorzuspielen, auch das war ein Liebesmitbringsel für sie aus dem fernen Bayern.
Wenn er nicht auf Reisen durch die Gebiete des Imperiums war, ließ er samstagnachmittags seine Tochter die letzte Arie vorsingen, die sie gelernt hatte, und dann ging er ins Wirtshaus seiner Schwiegereltern zurück, unermüdlich in seinem Willen, mit den Klempnern und Fuhrleuten über die großen Themen der Kunst und der Politik zu debattieren. Und er stoppelte eine Rede nach der anderen zusammen, während er sich hartnäckig einbildete, wenigstens sein Verlangen nach Kunst zu befriedigen, da er bei der Politik bald merkte, dass da nichts zu machen war. Diejenigen, die dort seit fünfzig Jahren an die Kutsche des Dichters gelehnt Karten spielten und
striscino
tranken, hörten ihm nicht einmal zu; die Neuen, die Faschisten der zweiten und dritten Stunde, nervten ihn nur mit ihrem Jawohl, mein Herr. Die Duse, die jetzt schon eine junge Frau war und angefangen hatte, an Festtagen an den Tischen zu bedienen, zwinkerte ihrem Vater zu und beide äfften die Faschisten nach. Und es schien, als sei alles schön und gut gemacht, in der richtigen Reihenfolge und in der rechten Harmonie, so wie das Leben und die Welt, denn ihr Leben war die ganze mögliche und unvorstellbare Welt, sie musste nur so bleiben, für immer.
Als der Krieg kam, merkte es zunächst niemand. Sicherlich wussten alle, dass er da war, doch er hatte sich sofort in der allgemeinen Mobilmachung der UNPA aufgelöst und für die Duse in ein paar zusätzlichen Gymnastikübungen, die samstagvormittags zu absolvieren waren, und am Ende des Unterrichts in einer Viertelstunde Anweisungen über den Feind, der im Hinterhalt lag. Der Feind war französisch, englisch, amerikanisch, polnisch, russisch, der Feind war überall. Und er war auch hier irgendwo, in einer Verkleidung, die sie noch nicht sehen konnte, die ihr Vater aber schwor, wiedererkennen zu können. Der Keller unter dem Haus am Ponte füllte sich jeden Tag mehr mit Lebensmitteln, Brennholz und Kohle. Die Mäuse rannten wie verrückt herum, als wären sie auf dem Jahrmarkt.
Dann begann der Krieg verloren zu gehen, und auch da merkte es zunächst niemand. Doch das dauerte nur einen Moment; dann begann sich der Keller zu leeren, fast so plötzlich, wie er sich gefüllt hatte. Ein paar verwundete Soldaten kamen nach Hause und setzten sich unter die Platane des Wirtshauses und schauten den Leuten ins Gesicht, als kämen sie aus der anderen Welt; zuerst schweigsam, dann redeten sie und hörten nicht mehr auf. Defätismus, sagte ihr Vater, aber jeden Tag sagte er es mit weniger Energie. Am Ende sagte er nichts mehr; es war der Tag, als sie Benito Mussolini unter Arrest stellten und
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