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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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wie er zu seiner Tochter sprechen sollte. Ihr Vater hatte sehr die Kunst und die Poesie der gerade erst vergangenen Jahre geliebt, und wenn die Kunstbücher sie unschlüssig und sprachlos machten, sie ihrer vielleicht sogar überdrüssig wurde beim Gedanken, nur einen kleinen Teil dessen, was sie sah, begreifen zu können – sobald sie einen Gedichtband aufschlug, irgendeinen Band, und sei es auch nur den eines ärgerlichen Avantgardisten, dann wusste sie, dass sie etwas gefunden hatte, was sie dann mit sich nehmen würde. Wie einen Stein mit einer seltsamen Farbe, den sie im Fluss fand, würde sie ihn weiter in ihren Händen halten, ihn anhauchen und umschmeicheln bis an die Schwelle des Schlafs. Und noch mehr: Sie spürte, dass manche Wörter für immer bei ihr bleiben würden. Sie hegte sie und hatte das Gefühl, dass sie sie von Minute zu Minute wachsen ließen, wie einen Ballon, immer größer und leichter, gespeist von der heißen Luft, die die Poesie ausströmte. Manchmal stieß sie auf einen so aufdringlichen Vers, so gleichklingend mit ihren zartesten Gedanken, dass sie es sein lassen musste, dass sie aufhören musste zu lesen. Und sich zwingen, diesen für ihr Herz zu großen Invasoren zurückzuhalten, ihn daran zu hindern, ihr wehzutun. Sie fühlte sich wie der hohe Damm des Soraggio, wenn sie sie als Kind hinbrachten, um ihn unter dem wütenden Ansturm der Wildbäche in der Schneeschmelze wimmern zu hören. Andere Male kam es vor, dass sie das Buch, das sie las, wegwarf, als hätte es ihr wehgetan, es in der Hand zu halten; es konnte passieren, dass es auf der Straße landete, doch zum Glück kam damals fast nie jemand vorbei.
    Im Haus hatte sie auch alle Bücher des Dichters der Waisen gefunden, jenes Pascoli, den ihr Vater so sehr verschmähte, und ihn im Wirtshaus zu lesen, verschaffte ihr eine seltsame und vertraute Freude, als ob er, der Dichter, ihr jene Gedichte persönlich vorlesen und sie dabei, wie er es mit ihrer Mutter getan hatte, auf den Knien halten würde. Derselbe zärtliche und traurige alte Onkel voller melancholischer Geschichten; jener Mann erwartete keine andere Befriedigung vom Leben als ein Lächeln seiner geliebten Nichte. Und sie las die Gedichte, die sie schon auswendig konnte, und lächelte, auch wenn sie voller Schnee und Waisentum waren. Um sie herum unter der Platane waren noch welche, die Karten spielten und
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tranken; das waren die Alten, diejenigen, die sich wirklich noch daran erinnerten, wie viel sie mit dem Dichter getrunken hatten.
    Niemand achtete auf sie; hier nahm scheinbar niemand etwas ernst. Auch nicht, als im Frühsommer die Salven der 140er Mörsergeschosse anfingen, laut zu pfeifen, die von der Versilia losflogen und an der Linie von Pradarena zerschellen würden; auch nicht, als ihnen die Flugzeuggeschwader in den Ohren zu dröhnen begannen, die denen, die sich die Mühemachten, den Kopf zu heben, manchmal schwarz und manchmal silberweiß erschienen. Scheinbar interessierte es diese Menschen unter der Platane wenig oder gar nicht, dass die silberweißen Flugzeuge anfingen, die Straße zu beschießen, die von Lucca heraufführte; und überhaupt nicht, als die Deutschen Befehl gaben, dass alle in ihren Häusern bleiben sollten. Ebenso, als sie böse wurden und begannen, Dinge aus den Häusern wegzuschleppen und alles zu durchsuchen und hier und da Ausweise zu verlangen. Und als sie die Echos der Salven der Sten hörten, die von den Schluchten von Sassi bis hierher hallten, und das Tak-Tak-Tak, das ihnen, kurz bevor die Sonne unterging, ankündigte, dass die Scharfschützen mit ihren Karabinern Arbeit gefunden hatten. Kugeln nicht gegen die Engländer, sondern gegen die Söhne und Enkel und Urenkel derjenigen, die unter der Platane geblieben waren. Derer, die auf nichts achteten. Es hatte den Anschein, als seien der Ponte und das Wirtshaus ein Vorposten der neutralen Schweiz, den niemand zu verletzen wagte. Die Front war hier in nächster Nähe, doch um sie herum war sie still und inaktiv, während überall geschossen, bombardiert und verbrannt wurde. Dieses Phänomen nannte man Niemandsland. Nach Sonnenuntergang half die Duse mit, das schwarze Tuch vor die Fenster zu hängen, dann machte sie sich auf den Weg, um bei ihr zu Hause sorgfältig die Verdunkelungsmaßnahmen durchzuführen, damit alles in Ordnung war, bevor die Patrouillen der Ausgangssperre herauskamen. Und sie setzte sich vor die abgeschlossene Tür, die von der Küche zu den Zimmern der

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