Himmelsmechanik (German Edition)
gegangenen Dingen war keine Liebe. Doch wenn sie dieses Lied spielte, fühlte sie sich, als hätte sie allen Kummer erlitten und alle Leidenschaften einer großen Liebe genossen. Sie hatte die Nacht, sie suchte das Meer. Ein dunkles, aufgewühltes Meer, ein Meer von Ferne und Exil, von stürmischer Gischt und eiskaltem Wind. Sie suchte im Meer ein Segel, und da waren drei, vier, zehn Segel, die sich am Ufer in Sicherheit brachten. Und sie weinte, weinte, vor Melancholie um ihre Liebe, die nicht zurückkehren konnte. Wären die Deutschen drüben gewesen, um ihr still zuzuhören, hätten auch sie geweint.
Wie viele Tangos gab es doch zu lernen. Und sie legte alles hinein.
Gegen Ende des Sommers, im Septemberneumond, ließ Pippo von sich hören, und die Duse lernte schnell, ihre Tangos mit dem launischen Rhythmus und dem unsteten Ton seines Motors in Einklang zu bringen. Sie begleitete ihn, wohin er auch immer ging. Ein paar Mal hatte er eine Bombe abgeworfen, aufs Geratewohl in die Dunkelheit, und niemand wurde verletzt; aber sie fürchteten ihn alle wie die Pest, außer ihr. Die Duse wusste es sehr zu schätzen, dass Pippo zurückgefunden hatte.
In jenen Tagen spielte das republikanische Radio ständig ein Lied, das trauriger nicht sein konnte. Es war ein Mädchen, das von zu Hause einen Brief an seinen Vater schrieb, der im Krieg war.
Lieber Papa, dir schreibt meine Hand, mein Herz zittert, und ich weiß nicht, wieso. Die Tränen, die mein Gesicht benetzen, sind Tränen des Stolzes, glaube mir
. Das Lied hieß
Kleines Kriegsgärtchen
, denn dieses Mädchen bemühte sich, seinen Beitrag für die Kriegsanstrengungen zu leisten, indem es im Beet vor dem Haus einen kleinen Gemüsegarten anbaute. Dieses Lied erinnerte sie natürlich an ihren Vater; wie auch er wegging, um an irgendeiner Front zu kämpfen, von der sie nichts wusste, außer dass sie so sein musste wie die um ihr Haus. Und das war eine Front mit Bomben, Schüssen und Toten, ohne dass man jemanden von Stolz sprechen hörte. Und es erinnerte sie an ihre Mutter, wie sie völlig unnatürlich bei ihrem Ehemann war, anstatt hier, zu Hause, zu sein und zusammen mit ihrer Tochter stolz auf ihn zu warten.
So musste die Duse in jenen noch warmen Tagen, während in den Wäldern die Kastanien in nie gesehener Menge und Größe reiften, dass es die Leute fast vergessen ließ, dass sie sie unter den Bomben würden einsammeln müssen, immer öfter über die Liebe ihres Vaters und ihrer Mutter nachdenken. Und sie kam zur Überzeugung, dass diese in Art und Beschaffenheit noch verwirrender und zweifelhafter war als die, die die Tangos nicht zu besingen wagten. Oder es war gar keine Liebe, sondern noch mehr, das, was danach kommt. Wie das, was Adam und Eva empfunden haben mussten, als sie den Garten Eden verließen und eng umschlungen durch die wilde Welt draußen gingen, solange sie lebten, wer weiß wie viele Jahrtausende noch. Das unsterbliche Komplizentum zweier Sünder, vielleicht das zweier Mörder. Aneinander gebunden wie Paolo und Francesca hätten sie nie sein können. Doch sie wusste nicht, mit wie viel Sünde sie sich befleckt hatten, und konnte nur Vermutungen anstellen. Und ihre Vermutungen führten nur zu größerer Unsicherheit und Sehnsucht.
In diesem Sommer hatte sie eine Freundin gefunden, erzählte mir die Duse, und ohne ihre Freundin wäre nichts von dem geschehen, was dann geschah. Vielleicht hätte auch die Duse nicht so lange gelebt, bis etwas geschah; denn, so erklärte sie mir, das Glück, das ihr das Akkordeon verschaffte, und die Zärtlichkeit, die aus den Gedichten kam, hätten ihr nicht genügt. So tauchte die Santarellina auf.
Es gibt ein Foto auf der Kommode im Sofazimmer, auf dem man die Duse und die Santarellina sieht, zu der Zeit, als sie sich kennenlernten, in den Kriegstagen. Sie sind zwei Mädchen, die sich im Schatten der Platane der Osteria del Ponte unterhaken. Das Licht, das durch die Blätter des großen Baums hindurchschimmert, schafft komplizierte Helldunkel-Effekte, wodurch die Konturen der Mädchen verschwimmen und auf seltsame Weise hervorspringen, sodass es schwierig ist, sie zu erkennen – außer an den Haaren und an den Schuhen. Eines der Mädchen hat ganz kurze schwarze Löckchen und trägt an den Füßen Holzschuhe: Das ist die Santarellina. Das andere Mädchen hat eine Masse launischer Wellen, die von einem breiten Band in Zaum gehalten werden, und trägt an den Füßen flache Schuhe, die so blank sind, dass sie im
Weitere Kostenlose Bücher