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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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Deutschen ging, und achtete darauf, dass von dort kein Laut kam, nicht einmal ein Schlafseufzer. Wenn sie wirklich sicher war, dass sie draußen auf Patrouille waren, ging sie in ihr Zimmer und holte unter dem Bett die Decke heraus, in die sie ihr Akkordeon eingewickelt hatte, und begann zu spielen.
    Der Krieg hatte der Duse Dinge genommen, hatte ihr aber auch welche zukommen lassen. Ihr Vater hatte ihr Klavier verkauft, aber ihre Mutter hatte ihr aus dem Wirtshaus das Akkordeon gebracht, das sie in einem Glasschrank vor der Gaststube hatten, bereit für ein Man-weiß-ja-nie. Es gab immer ein Man-weiß-ja-nie, soweit sich ihre Mutter erinnerte, und es gab immer jemanden an einem bestimmten Moment des Abends, vor allem im Sommer, als alle Schwierigkeiten hatten, sich genügend zu betrinken, um zum Schlafen nach Hause zu schleichen, der zum Glasschrank ging und das Akkordeon herausholte. Manchmal konnte es auch vorkommen, dass sie tanzten; unter Männern, fein und anmutig wie Galane, denn der Tanzschritt ist etwas, das man hat wie Vornehmheit: gratis. Bei der Ausgangssperre brauchte niemand mehr das Akkordeon, und nun gehörte es der Duse. Es war ein Instrument der alten Sorte, mit Elfenbeintasten und einem Balg aus ganz bemaltem feinsten Lammleder; hier und da hatte es ein wenig Lackierung verloren, konnte aber noch einen klaren und kräftigen Ton halten. Die Duse wollte es spielen lernen wie das Klavier, wenn möglich noch besser, denn es war ihr sonst nichts geblieben, was sie hätte glücklich machen können.
    Sie verschaffte ihr große Freude, die neue und überraschende Anstrengung, die erforderlich war, um einen einzigen Ton zu erzeugen. Einen vollen Ton; denselben, für den auf dem Klavier der Anschlag mit dem Zeigefinger und ein leichter Druck auf das Pedal genügt hatte, um zu hören, wie er sich im ganzen Haus verbreitete. Doch so kam es ihr viel schöner vor, dass für die Musik die Anstrengung der Arme und der Schultern erforderlich war. Wie eine Arbeit. Sie sah, dass alle um sie herum, seitdem Krieg war, mit einer krampfhaften Energie arbeiteten. Die Menschen brachten sich um vor Anstrengung für etwas zum Essen, etwas zum Anziehen, etwas zum Heizen. Die Mädchen in ihrem Alter gingen mit Körben voll Steinen, Kastaniensäcken, Strohkreuzen den Berg hinauf und hinunter; die kleinen Mädchen mühten sich den ganzen Tag mit ihren Vätern und ihren Großvätern ab, um Löcher zu graben, Gräben zuzuschütten, Steine zu klopfen und sich Mauern zu bauen. Sie kämpften sich ab, um etwas Schutz zu finden vor dem Hunger, der sich einstellte, vor der Kälte, die kommen würde, vor den Bomben, die zu fallen begannen. Auch die schmächtigsten kleinen Mädchen hatten breite Schultern und große Hände bekommen. Auch sie hätte gern gearbeitet, doch sie wusste nicht, was sie tun sollte: Akkordeon zu spielen, war die einzige Arbeit, die sie auf die Schnelle lernen konnte.
    Sie lernte nach Gehör, denn die Klaviernoten halfen ihr nicht mehr viel. Sie versuchte, die Lieder auswendig zu lernen, die sie im Radio hörte, und sich die einzuprägen, die sie im Wirtshaus und auf der Straße gehört hatte, wenn vor dem Krieg samstagabends im Sommer der ganze Ponte zu tanzen anfing. Es waren meistens melancholische Lieder, und jetzt, da sie mehr darauf achtete, wunderte sie sich, dass den Menschen diese Lieder so sehr gefielen, als hätten sie die Sehnsucht, sich noch mehr zu verzehren, als das Leben sie sowieso schon verzehrte. Aber auch ihr gefielen sie, auch die Duse verspürte das Bedürfnis dieser besonderen Melancholie, die ihr aus den Lungen und aus den Armen aufstieg, wenn sie in der Nacht ohne Laut und ohne Lichter in einer großen Umarmung den Balg auseinanderzog und das Akkordeon tief ausatmete, als würde es den trägen Geist einer in den Wäldern verborgenen Höhle ausstoßen. Und sie schloss die Umarmung, drückte den Balg zusammen, und der Seufzer wurde zum ersten Akkord. Eines Tangos.
    Es gab so viele Tangos zu lernen.
    O Meer, warum
    lädst du mich ein zum Träumen heut Nacht
,
    wo ich leide und nicht vergessen kann
    meine Liebe, die ich verlor?
    Sag mir, was ist
    diese fremde Musik, die du jetzt
    dort unten ganz leise singst
,
    und die das Herz traurig macht
.
    Vielleicht ist das die Musik des Meeres
,
    die beim Warten das Herz erzittern lässt
,
    jedes Segel kehrt wieder und du findest nicht zurück
,
    denn bittere Tränen vergießen lässt du
.
    Die Duse hatte keine Liebe gehabt, und unter den verloren

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