Himmelsschatten

Astronauten via mindestens zwei voneinander unabhängigen Leinen mit der Station verbunden, doch dann kam eines zum anderen. Ein Verschluss versagte ausgerechnet in dem Augenblick, als der japanische Ingenieur seine Sicherungsleine an eine andere Stelle des S6-Gitterelements versetzten wollte und es beim ersten Versuch nicht klappte. Durch diese einfache Bewegung – die normalerweise durch die Verbindung mit der massiven Station abgebremst wurde – drehte sich der Mann immer weiter und begann von der Gitterstruktur wegzudriften.
    Ohne zu zögern und vor den Augen der Fernsehzuschauer auf der Erde hechtete Lucas seinem Kameraden einfach hinterher; der Mann war schon fast außer Reichweite geschwebt, aber Lucas packte die Füße des entwischenden Raumspaziergängers und zog ihn langsam, aber beharrlich in Sicherheit.
    Der Unfall hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Tatsächlich ergab eine spätere Analyse, dass keine echte Gefahr bestanden hatte; dazu hatte der von der Station losgelöste Astronaut zu wenig Tempo – er taumelte nicht und bewegte sich ohnehin kaum –, und der ferngesteu erte Manipulatorarm der Station hätte ihn so oder so er reicht.
    Nichtsdestoweniger hatte die Legende sich bereits mit Windeseile verbreitet, wobei seine attraktive schwarzhaarige Erscheinung, sein Lächeln und dass er vier Sprachen fließend beherrschte, ihm nicht zum Nachteil gereichten; auch nicht sein Ruf als tollkühner Rettungshubschrauber-Pilot oder dass seine Schwester Isobel ein ehemaliges Victoria’s-Secret-Model war.
    Seine Berühmtheit hatte Lucas offensichtlich gehol fen, sich einen der begehrten Plätze in der Brahma -Crew zu ergattern. Brasiliens finanzieller Beitrag, mit dem die Raumfahrtbestrebungen der Koalition gefördert wurden, gewährten diesem Land zwar das Recht, einen eigenen Repräsentanten auf diese erste große Mission zu entsenden, aber die Agencia Espacial Brasileira hatte kein Astronautencorps, sondern nur zwei Piloten, die man während der letzten zehn Jahre angeheuert und zu Trainingsprogrammen nach Houston, Moskau, Köln und Tsukuba geschickt hatte. 2017 war Lucas Munaretto der einzige immer noch qualifizierte Mann, und um einen Platz in der Crew rissen sich Mitglieder des russischen Kosmonautenteams sowie die indischen Vyomanauten, ganz zu schweigen von geeigneten Kandidaten der European Space Agency und Japan und sogar ein verärgerter ehemaliger NASA -Astronaut.
    Natürlich hatte man ihn ausgewählt, und das Training absolvierte er zusammen mit einem Vyomanauten, der das Kommando innehatte, und zwei Russen, die von ihren Erfahrungen her nicht unterschiedlicher hätten sein können. Dennis Chertok war fünfzig und hatte fünf Raumflüge hinter sich, alle zur ISS ; einen Flug hatte er als Missions spezialist in Amerikas längst eingemottetem Space Shuttle unternommen. Er wusste alles über Hardware, operative Einsätze und vor allen Dingen über EVA s, nachdem er achtzig Stunden bei Außenbordarbeiten im Weltall verbracht hatte. Selbst Taj, der sonst empfindlich auf Zurücksetzungen und Begünstigungen reagierte, hatte sich fast während der gesamten Dauer des Trainings Dennis untergeordnet, bis dessen Zwangsneurose regelrecht erdrückend wurde.
    Natalia Yorkina war noch auf keiner Mission mitgeflogen. Lucas nahm an, dass man sie nur in die Crew aufgenommen hatte, um eine Frau dabeizuhaben. Anfangs war er von der dunkeläugigen, oftmals nervösen und dauernd kichernden Natalia alles andere als beeindruckt gewesen. Doch sie entpuppte sich als äußerst kompetent, lernbegierig, und sie konnte unermüdlich arbeiten, wie ein Roboter.
    Dann war da noch Taj selbst, der behäbigste, phlegmatischste Mensch, den Lucas je kennengelernt hatte; er wirkte eher wie ein Buchhalter im Ruhestand oder ein ernsthafter Schweizer Banker denn wie ein Testpilot. Seine größte Tugend war die Geduld … wie es sich dann herausstellen sollte, ein absolut positiver Charakterzug angesichts der Schwerfälligkeit, die Bangalore an den Tag legte.
    Taj zeigte nur dann so etwas wie eine Gemütsregung, wenn er von irgendeinem Skandal der Amerikaner erfuhr. Dann deutete er ein Lächeln an, wölbte eine Augenbraue und rieb sich schadenfroh die Hände.
    Lucas war dankbar, dass sein Kommandant Gefühle hatte, obwohl er für seinen Teil diese hochgezüchtete Rivalität zwischen der Koalition und den Vereinigten Staaten hasste. Gewiss, die Beziehungen zwischen den USA und Russland hatten in den vergangenen zwanzig Jahren Höhen und