Himmelsschwingen
bereits am Strand der Newa eingefunden hatten. Ein Mäd chen in Shorts und einem erdbeerfarbenen Shirt schlang fröstelnd die Arme um den Körper und suchte den strahlend blauen Himmel nach etwas ab, das ihr solches Unbehagen bereitete.
Armer Samjiel, es gibt mehr Sehende, als du denkst! Von diesem erfreulichen Gedanken begleitet und die gestohlene Feder in der Tasche, folgte sie ihm über die breit dahinflie ßende Newa. Am anderen Ufer verschwand er kurz aus ihrem Blickfeld, um wenig später als Mensch und nun für jedermann sichtbar wieder hervorzutreten.
Um ihm besser folgen zu können, verzichtete sie darauf, es ihm nachzutun, und navigierte ungesehen zwischen den Passanten hindurch, die Flügel dicht am Körper, um niemanden aus Versehen damit zu streifen. Sterblichen war es nicht immer zuträglich, von einem Engel berührt zu werden, und eine Ohnmacht auf offener Straße oder noch Schlimmeres hätte Samjiel gewarnt. Schon ohne solch einen Zwischenfall war es schwierig genug, unbemerkt zu bleiben. Den General durfte man nicht unterschätzen. Selbst wenn er eine unerwartete Schwäche gezeigt hatte oder, wie in diesem Augenblick, scheinbar ohne Ziel durch die Stadt schlenderte. Samjiel war der oberste Heerführer der Gerechten und nur sich selbst sowie dem Erzengel Michael verantwortlich. Jemand wie er kam nicht auf die Erde, um einfach mal auf einem Kirchturm zu sitzen oder einen Spaziergang zu machen.
Später verlangsamten sich seine Schritte, er schien aufmerksam auf etwas zu horchen, das vielleicht nur er hören konnte.
Was der Grund für sein Herumstreunen sein mochte, das so gar nicht in ihr Bild von einem Gerechten passen wollte, würde sie nur ergründen können, wenn sie ihm folgte. Genau dies tat sie mit äußerster Konzentration und hätte trotzdem beinahe zu spät bemerkt, dass er plötzlich stoppte. Erschrocken zog sie sich in einen Hauseingang zurück. Am liebsten wäre sie davongeflogen. Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich an die Hauswand und atmete einmal tief durch. Aus der Ferne hörte man den mittäg lichen Salutschuss von der Festung. Ein Mann blieb un mittelbar vor ihr stehen, stellte umständlich seine Armbanduhr und blockierte den Eingang. Sie widerstand der Versuchung, ihm einen kleinen mentalen Anstoß zu geben, damit er endlich weiterging. Samjiel wäre die Magie in seiner unmittelbaren Nähe nicht entgangen.
Kaum war der Mensch aus ihrem Sichtfeld verschwunden, sah sie um die Ecke. Der Gerechte hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und bog nun weiter vorn in die nächste Seitenstraße ein.
Iris nahm die Verfolgung erneut auf und musste grinsen, als sie sah, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. In einem Schaufenster waren Heiligenbilder und Engelsfiguren ausgestellt. Den Erzengel Michael mit gezücktem Schwert gab es gleich in mehrfacher Ausführung. Kein Wunder, dass Samjiel so grimmig gewirkt hatte, denn sein Chef hasste die vielfältigen Darstellungen, die von ihm existierten. Dabei war er manchmal ganz gut getroffen. An der Statue auf der Engelsburg in Rom beispielsweise gefiel ihr der tief auf den Hüften gegürtete Rock außerordentlich. Schade, dass diese Kleidung aus der Mode gekommen ist , dachte sie und gab einer der Figuren, die vor dem Laden aufgestellt waren, einen leichten Stoß. Klappernd fiel diese um und riss alle anderen mit sich, als wären sie Dominosteine in dem berühmten Spiel. Übermütig lachend lief Iris weiter. Mit einem Plastikengel Schabernack zu treiben, war einfach. In Wirklichkeit fürchtete sie sich vor dem übellaunigen Erzengel.
Samjiel war inzwischen ein gutes Stück vorangekommen, und wenig später überquerte er die Schlossbrücke, auf der jeder Fußgänger schneller vorwärtskam als die zahllosen Fahrzeuge. Beim Anblick der gegenüberliegen den Uferpromenade erkannte sie, dass sie einen großen Bogen gegangen waren. Es blieb ihr kaum Zeit, um das beeindruckende Ensemble der Eremitage zu bewundern. Die Fassaden waren vor nicht allzu langer Zeit frisch ge strichen worden. Jetzt leuchteten sie wieder wie reich verzierte Marzipantorten, auf die jemand sahneweißen Stuck aus einer Spritztüte aufgetragen hatte. Bisher hatte der feine Staub aus Hunderttausenden von Autos keinerlei sichtbare Spuren hinterlassen – anders als in den Körpern der Passanten, von denen an windstillen Tagen nicht wenige Mühe hatten, Atem zu schöpfen, weil ihre Lungen dunkel waren wie die eines Kettenrauchers. Zum Glück mangelte es hier am Fluss, der weiter
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