Himmelsschwingen
einholst, bevor er in falsche Hände gerät!«, warf Iris ein.
Der Schutzengel neben ihr zuckte zusammen.
Hoppla, da habe ich wohl vergessen, dass meine lieben Kollegen mich auch nicht sehen können! Lachend erlaubte sie ihm einen Blick auf ihre Engelsgestalt.
Erschrocken wich er zurück. » Vigiles! Wächterin, ich habe nichts getan!«
Genau das dürfte dein Problem sein , dachte Iris und be mühte sich um einen Gesichtsausdruck, der nichts von ihrem Ärger verriet. Sie wusste, was er sah: eine moderne Jeanne d’Arc mit wildem, blau gefärbtem Haar, zu allem entschlossen. Ausgerüstet mit Brustpanzer und einem Ket tenhemd, das ihr fast bis zu den Knien reichte, hätte niemand sie mit einem der ätherisch zarten Schutzengelwesen verwechselt. Sanfter, als ihr zumute war, sagte sie: »Geh schon, seine Seele braucht dich!«
Während der Schutzengel daraufhin davonstob, als wären die Apokalyptischen Reiter hinter ihm her, seufzte sie und erinnerte sich endlich an ihre eigene Aufgabe.
Mit den Fingerspitzen strich sie über die Feder in ihrer Tasche, öffnete ihre Schwingen und flog voller Vorfreude hinauf zu den zerrupften Wolken. Die Thermik war hier über der Stadt ein bisschen unzuverlässig, und ein kühler Wind trug den Duft des nahen Meeres zu ihr herüber, der sich mit den weniger angenehmen Gerüchen von billigem Benzin und der zahllosen Schornsteine vermengte. Doch Iris liebte nichts mehr als das Fliegen und genoss jede Böe, sodass sie sich für einige Minuten im Tanz mit dem heiser flüsternden Westwind verlor. Eine echte Herausforderung war der Flug jedoch nicht, deshalb gab sie ihr Spiel mit den Elementen bald wieder auf und machte sich ernsthaft auf die Suche nach dem entschwundenen Gerechten. Vor allen Augen verborgen glitt sie lautlos über die Dächer von Palästen und Häusern hinweg, durch Stra ßenfluchten und über Baumwipfel, Samjiels Feder wie einen Kompass haltend, bis sie ihn in einem belebten Stra ßencafé sitzen sah, das Gesicht mit einer Hand beschattet, regungslos.
»Ist hier noch frei?«
Ohne sich ihr zuzuwenden, ließ Samjiel den Arm sinken und schlug ein Bein über das andere. »Ah, da bist du ja.«
Sonst schien niemand ihre Ankunft bemerkt zu ha ben. Auf die Großstädter konnte man sich in solchen Din gen verlassen. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten und ignorierten einfach all das, was sie in Schwierigkeiten bringen könnte. Wer würde es ihnen auch glauben, berichteten sie von einer jungen Frau, die wie aus heiterem Himmel plötzlich mitten unter ihnen erschienen war?
Wenig begeistert von der Vorstellung, Samjiel hätte sich einen Spaß erlaubt und sie die ganze Zeit am Gängelband durch die Straßen geführt, ohne dass sie ihm auf die Schliche gekommen war, zog Iris eine Sonnenbrille aus der Tasche, setzte sie auf und winkte dem Kellner. Dabei versuchte sie unauffällig zu ergründen, was Samjiel auf der anderen Straßenseite so sehr interessierte, dass er sie nicht einmal wegen ihres Auftritts tadelte. »Wusstest du«, fragte sie, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »dass es in Isfahan unglaublich viele Spatzen gibt?« Erst, als er nicht reagierte, erkannte sie, wie wichtig es ihr war, ihn aus der Reserve zu locken. Samjiel, stellte sie fest, während sie wortlos beieinandersaßen, hatte eine Art an sich, die zum Widerspruch reizte und die Lust weckte, mit ihm zu streiten, bevor er ihr überhaupt einen Anlass dazu gab. Ein riskantes Spiel, wenn man bedachte, mit wem sie es zu tun hatte.
Und dann, als sie es schon fast aufgegeben hatte, ihm irgendeine Erwiderung zu entlocken, zuckte seine linke Augenbraue. »Ja.«
Das ist ja mal eine ausführliche Antwort! Wider Willen belustigt wies sie auf einen Schwarm Spatzen, der tschilpend über eine Brötchenhälfte herfiel, die jemand, absichtlich oder nicht, auf dem Mäuerchen am Brunnen liegen gelassen hatte. »Hier auch.«
Dieses Mal erwartete sie keine Antwort und war daher überrascht, als sie das amüsierte Zucken um seine Mundwinkel bemerkte. »Offensichtlich«, war dann aber alles, was er sagte, und noch immer sah er sie nicht an.
Auch wenn sich der Engel an ihrer Seite nicht besonders gesprächig zeigte, so schien er doch zumindest bereit zu sein, sich überhaupt mit ihr abzugeben. Was, wenn sie bedachte, dass es häufig nur das Schwert eines Gerechten war, das zu Kriegerinnen wie ihr sprach, schon als ungewöhnlich betrachtet werden konnte.
Bevor Iris Samjiel etwas Schnippisches entgegnen konn te,
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