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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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dieser Stadt machten, wenn sie im Sommer in Scharen kamen, um die prachtvollen Paläste zu bewundern und danach den Zauber der Weißen Nächte zu erleben.
    »Du solltest dein Sightseeing-Programm noch einmal überdenken.« Samjiel landete neben ihr in einem Hinterhof. »Hier ist nichts.« Er faltete die Flügel zusammen, bis sie vollständig hinter seinem Rücken verborgen waren und man ihn für einen ganz normalen Menschen halten konnte. Wenn auch für einen, der in dieser Gegend nichts zu suchen hatte.
    Und einen, der verdammt attraktiv ist , ging es Iris durch den Kopf. Der Gedanke erstaunte sie, denn ein angenehmes Äußeres besaßen alle Engel. Eitelkeit war ihnen fremd, sodass ihr solche Dinge normalerweise nicht auffielen.
    Sie war verwirrt, und das machte es nicht leichter, der Versuchung zu widerstehen, einfach seine Hand zu nehmen und ihn wieder hinter sich herzuziehen. Verrückt!
    Schließlich bedeutete sie ihm mit einer Kopfbewegung, ihr auf die Straße hinaus zu folgen. »Ich möchte dir etwas zeigen, aber du musst mir vorher versprechen, dich nicht zu offenbaren oder sonst wie einzumischen.«
    »Was willst du mir zeigen?« Suchend glitt sein Blick über die tristen Fassaden und kehrte endlich zu ihr zurück.
    Irgendetwas in ihrem Gesicht schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln, und sie fragte sich, ob vielleicht noch Schaum vom Caf f è Latte in ihrem Mundwinkel klebte. Solche Dinge passierten ihr ständig, und ihre Freunde machten sich gern darüber lustig. Kürzlich war einer von ihnen sogar unverschämt genug gewesen, ihr die Spuren einer Schokoladentorte vom Kinn zu lecken! Die Erinnerung daran und Samjiels sinnlicher Mund erweckten dieses eigenartige Kribbeln in ihrem Bauch erneut zum Leben. Schnell sah sie beiseite.
    »Du versuchst doch nicht etwa, meine Gedanken zu lesen?«
    »Nein.« Samjiel runzelte die Stirn.
    »Gut. Versprichst du jetzt, dich nicht einzumischen?«
    »Zweifelst du meine Selbstbeherrschung an?« Nur sein kurzes Zwinkern verriet, dass die Worte nicht so harsch gemeint waren, wie sie geklungen hatten.
    »Natürlich nicht!« Doch , das tat sie. Und mit ihrer eigenen Gelassenheit schien es auch nicht weit her zu sein, denn nun hatte sie Schwierigkeiten, sich vom Anblick der einzigartigen Blautöne seiner Augen loszureißen, die eine geradezu hypnotische Wirkung auf sie hatten.
    »O verdammt!« Iris erstarrte.
    »Wie bitte?«
    Ärgerlich machte sie einen Schritt nach vorn, blieb aber stehen, als sie Samjiels Hand auf der Schulter spürte.
    »Du willst dich doch nicht etwa einmischen?« Es hatte belustigt geklungen, aber besonders freundlich war seine Miene nicht, als er nun ebenfalls die Szene auf der anderen Straßenseite beobachtete.
    Ein Junge, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, kniete inmitten einer schnell größer werdenden Lache auf dem Bürgersteig, angstvoll gekrümmt, die dünnen Ärmchen schützend über den Kopf gehoben. Vor ihm lagen die Scherben einer Schnapsflasche.
    »Dummkopf!« Die Frau neben ihm beugte sich vor und holte aus. Doch bevor sie das Kind schlagen konnte, kam eine rundliche Person aus einem warm erleuchteten Laden gerannt und fiel ihr in den Arm.
    »Kauf dir eine neue, wenn du musst!« Rasch drückte sie der wütenden Frau ein paar Scheine in die Hand. »Der Kleine hat das doch nicht mit Absicht getan.« Sie hockte sich vor dem Kind auf den Boden, löste langsam dessen ineinander verschlungene Arme und nahm es hoch. »Nicht weinen, Mischjenka. Die Mama ist schon wieder gut mit dir!« Mit einer Hand zog sie ein Tuch aus der Tasche und versuchte, damit die Tränen des Kindes zu trocknen. Vergeblich, denn nun heulte es so laut wie eine Sirene.
    »Nichts ist gut! Das blöde Balg fällt ständig hin. Guck es dir doch an, nicht einmal richtig sprechen kann es«, schrie seine Mutter gegen den Lärm an und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich von dir überreden lassen musste, den Krüppel nicht gleich ins Heim zu geben.«
    Gib mir Geduld mit dieser schrecklichen Mutter! Hinter einem der Schaufenster bewegte sich ein Schatten.
    Iris und Samjiel hörten die Stimme jedoch klar und deutlich, als hätte die Sprecherin neben ihnen gestanden. Jetzt war es Iris, die ihn zurückhalten musste. »Bitte!«
    Widerwillig blieb er stehen. »Wolltest du mir das zeigen? Einen gefallenen Engel, den ich übersehen habe? Soll ich jemanden schicken, der sich darum kümmert?«
    Erschrocken sog sie die Luft ein. »Natürlich nicht!

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