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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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schwächer und hinterließ schließlich nur noch ein unbestimmtes Echo, das mit einem betrüblichen Verlustgefühl einherging.
    Sobald der Kontakt abgebrochen war, hatte auch Samjiel abrupt haltgemacht. Nun betrachtete er die verwaiste Hand fläche, und Iris hätte schwören können, dass auch er sich fühlte, als wäre ihm soeben etwas besonders Kostbares verloren gegangen.
    Zu gern hätte sie einen zweiten Blick in seine Gedanken gewagt. Die Gefahr, dabei erwischt zu werden, war nur leider recht groß und hätte ihrem Plan geschadet, Vertrauen aufzubauen. Herauszufinden, ob jede Berüh rung dieses Gefühl auslöste, reizte sie gewaltig.
    Nur ein kleiner Stups? , fragte die stets präsente Versuchung in ihr. Die lästige innere Stimme und ein ausgeprägter Hang zum Risiko gehörten zu ihren ständigen Begleitern, und beide setzten sich allzu häufig durch. In diesem Fall behielt jedoch ihre Vernunft die Oberhand, und Iris tat es Samjiel gleich, dem man seine Verwirrung nun nicht mehr ansah.
    Regungslos lehnte er an einem der golden geflügelten Brückenwächter und gab vor, den Anblick der fernen Kuppeln der Erlöserkirche zu genießen, deren Architektur dem Palast eines romantischen Großwesirs zur Ehre gereicht hätte. Über mächtigen Säulen leuchtete die Glaskuppel des Singer-Hauses, und das warme Glimmen der Straßenlaternen bildete einen Kontrast zu den weniger beleuchteten Fassaden, die mit ihrem kühlen Grau der späten Stunde wie dunkle Boten einer anderen Welt wirkten. Der unirdische roséfarbene Schimmer, der ihre Konturen weicher zeichnete, schien die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu markieren.
    Manchmal , dachte sie, kommt mir Sankt Petersburg wie das Puderkabinett einer farbverliebten Magierin vor. Schließlich stieß sie sich vom kunstvoll geschmiedeten Brückengeländer ab. »Lass uns fliegen.«
    Er nickte nur.
    Kurz darauf tauchten sie gemeinsam in die Schatten einer ruhigen Hofeinfahrt ein und verschmolzen mit der Umgebung, bis niemand mehr ihre Gestalt erkennen konnte. Mit kräftigen Flügelschlägen hob Iris vom Boden ab, und als sie sich umsah, folgte er ihr bereits. Sie kamen schnell voran, die Luft war ihr Element und trug die Engel mühelos ihrem Ziel entgegen.
    Inzwischen hatte sie einen Plan und Samjiel deshalb in eine weniger belebte Gegend gelotst, in die sich Touristen nur selten verirrten. Den Häusern sah man ihr Alter an, keines davon war herausgeputzt wie die prachtvollen Gebäude, die sie gerade noch in einem anderen Bezirk bewundert hatte.
    Von ihrer Fröhlichkeit blieb nicht viel übrig, als sie die luftigen Höhen verließ und an grauen Fassaden hinaufsah, denen die Insignien bürgerlichen Wohlstands längst abhandengekommen waren. Ob der Putz durch das feuchte Klima oder den starken Frost herabgefallen war, interessierte die Bewohner ganz bestimmt nicht so sehr wie eine funktionierende Heizung im Winter.
    Der Himmel hatte einen Pastellschleier in adäquatem Grau angelegt, und in der Ferne kündigten bleifarbene Wolken Regen an, den ein kühler Wind wenig später vor sich durch die Straßen trieb. Der Baum auf dem kleinen Platz, den sie nun überquerten, bog sich unter einer Böe, die an den Blättern riss, um sie davonzutragen wie die Plastiktüte, die aufgebläht wie ein Ballon durch die Luft flog: hierhin, dorthin, bis sie in den dünnen Zweigen einer Hecke hängen blieb, die den Namen kaum verdiente, so erbärmlich war sie. Niedergetreten von achtlosen Menschen, die hier zu besseren Zeiten ganze Tage verbracht hatten, wie der herumliegende Müll verriet. Dabei luden die mit Botschaften verliebter Teenager bemalten Bänke wahrlich nicht zum Verweilen ein. Wer sich wirklich hinsetzten wollte, musste damit rechnen, sich anschließend mindestens einen Splitter aus dem Allerwertesten zu ziehen oder sich gleich eine Etage tiefer wiederzufinden, wenn das morsche Holz schließlich den Kampf gegen Na tur und Physik aufgab. Die ursprüngliche Farbe erahnte ohnehin nur der Fachmann.
    Obwohl das Wetter einem Engel nichts anhaben konnte, zog Iris den Kopf zwischen die Schultern und wünschte sich einen Mantel, einfach nur, um einen Kragen zu haben, den sie hochschlagen konnte. Den wenigen Passanten, denen sie begegneten, schien es ähnlich zu ergehen. Auch sie waren vom Regen überrascht worden und hielten sich dicht an den Häusern, hasteten über den zugigen Platz, instinktiv Schutz vor einer Dunkelheit suchend, die nicht zu dem Bild passen wollte, das sich Fremde von

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