Himmelsspitz
wehe dem Karl, wenn der Korb abends nicht gefüllt war. Im Winter verdiente er als Laufbursch und Kraxenträger sein Ganggeld beim Urban Kraxner.
Als Karl mit sieben Jahren in die Schule kam, sprach der Lehrer mit dem Geistlichen. Ein geschlagener Junge sei der Kleine, mit geplagtem Rücken und Schwielen an den Händen. Am selben Tag noch war der Pfarrer den Pfad hoch nach Fuchsbichl gestapft und hatte bei den Fenders so lange in der Stube gesessen, bis Elfriede und Hans versprachen, dem Bub keine blauen Flecken mehr zuzufügen. Andernfalls, so hatten sie schwören müssen, würden sie Buße durch eine Wallfahrt nach St. Hedwig tun.
Karl, der Felsenkletterer, fand am späten Nachmittag des Schützenfestes in der Nähe des Gebirgsbachs den Schwerverletzten, wie er bewusstlos und mit gebrochenen Beinen unter den Geröllmassen lag.
Die Reisenden hatten ihre Zwischenstation München erreicht. Horst lag, nachdem alle vorzüglich gespeist und er eine Flasche Wein getrunken hatte, schnarchend in den Kissen, wie ein großes Baby, unschuldig im Schlaf mit gelösten Zügen. Isabel saß neben ihm am Bettrand und betrachtete sein dralles Gesicht von der Seite, die lange, ausgeprägte Nase, die tiefen Falten zwischen seinen Augenbrauen und die Narbe an der Wange, die er sich als Student bei einer schlagenden Verbindung zugezogen hatte.
Seine Wangen füllten sich gleichmäßig wie ein Blasebalg, die schmalen Lippen vibrierten, entließen ein leises Pfeifgeräusch und fielen wieder in sich zusammen. Isabel legte ihren Finger auf seinen Mund und ließ ihn dann zum Kinn gleiten. Sie drückte seinen Unterkiefer leicht nach unten, sodass sich seine Mundhöhle in all ihrer Tiefe vor ihr auftat. Es roch süßlich vergoren. In der hinteren Zahnreihe blitzte Gold, die zerfurchte Zunge zitterte geräuschvoll im Takt der Atmung. Als sie für einen kurzen Moment nach hinten klappte und den Schlund verschloss, zog Unmut in Horsts Miene auf. Schnappend, wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hatte, suchte er nach Luft. Dann schmatzte er zufrieden und schloss den Mund. Ruhe lag über dem schweren Mann, bis sich die Zunge wieder einen Weg durch die Lippen ins Freie bahnte. Wie ein unförmiger, glänzend feuchter Wurm ragte sie aus der Höhle, in alle Richtungen kreisend, bis Horsts Kiefer wieder nach unten kippte und es wieder von vorn begann, dieses Pfeifen und Rasseln.
Was empfinde ich noch für ihn, dachte Isabel. Langsam schob sie die Bettdecke bis zu Horsts Bauchnabel und legte seinen schweren Oberkörper frei. Die Arme ruhten ausgestreckt zur Seite, mächtig und kraftvoll. Der behaarte Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus des Pfeifens. Unterhalb der rechten Brustwarze trug er ein längliches Muttermal. Isabel berührte es vorsichtig.
»Ist es die Macht oder das Vergessen?«, flüsterten ihre Lippen, dann umschlossen sie seinen Bauchnabel, während ihre Hand unter die Decke in seine Scham griff. Das Pfeifen wurde leiser und die Atmung schneller, als das Glied Isabels Händen gehorchte, ein Eigenleben entwickelte und Horst, den sonst alles so kontrollierenden Horst aus seinem tiefen Schlaf holte.
Und als sein schwerer Körper auf dem ihren lag, den Rhythmus der Vereinigung vorgab, zuerst gemächlich, dann ungestüm, schloss Isabel die Augen und fragte sich: Eine Fahrt zum Himmelsspitz, welche Wunden würde sie aufreißen?
Sie vernahm das gewohnte Stöhnen, welches das nahe Ende ankündigte. Es klang leiser als sonst, es schien, als geschehe alles nur im Schlaf.
Dann fiel sein Körper über ihr zusammen, schlaff und schwer. Sie hörte, wie seine Atmung langsamer und stiller wurde, bis für einen kurzen Moment Geräuschlosigkeit den Raum beherrschte.
Isabel betrachtete den Deckenstuck, eine formvollendete Verflechtung der Girlanden. Welch unglaubliche Präzision, welch wundervolle Regelmäßigkeit. In der Mitte der Rosette hing ein prächtiger Leuchter. Seine Kristalle funkelten in vielen Farben und warfen ihre Schatten an die Wand. Isabel zählte die Leuchtkerzen.
Horst gab ein leise pfeifendes Geräusch von sich, es klang nach Zufriedenheit. Sie spürte den Hauch seines Atems an ihrem Ohr, wie er seine Gleichmäßigkeit verlor, fester und stockender wurde, und ehe Horst zu schnarchen begann, rollte sie seinen Körper zur Seite.
Nur die Augen nicht schließen, dachte sie. Doch mit jeder Stunde verblich der Anblick des Deckenstucks immer mehr, und Isabel verlor die Kraft, sich der Erinnerung an jenen Mann zu
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