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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Tramitz
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Horst, den die Gottesmutter fortschicken sollte, weil Lea ihn nicht leiden konnte, weil er Mutter nicht guttat. Auch um die Schule, mit den strengen Lehrern und den Mitschülern, die sie manchmal neckten.
    Lea zündete ein Streichholz an, sah zu, wie das Feuer langsam nach oben kroch, bis es ihre Finger erreichte, und blies es dann aus, bevor es zu schmerzen begann. Und an wen wollte sie jetzt besonders denken, für wen eine Kerze entfachen? Sie zündete ein zweites Hölzchen an. Sie hatte keine Vorstellung von jemandem, der im Reich der Toten weilen könnte. Nicht einmal von ihrem Vater, falls er überhaupt dort war. Ein drittes Streichholz verglimmte. Wie sollte sie zur Muttergottes sprechen? Sollte sie Heilige Muttergottes zu ihr sagen oder einfach nur Maria? Sie hätte das den Riesen fragen sollen.
    Eine kleine Spinne seilte sich von der Decke herab, direkt über dem Kopf der Heiligen Maria. Sie baumelte an einem feinen Faden, der länger und länger wurde, bis sie schließlich auf dem Zacken der Krone landete. Von dort krabbelte sie langsam hinunter zur Stirn, ein Mal quer über Marias linkes Auge, den Nasenrücken entlang, hinunter zum lächelnden Mund, wo sie dann zwischen den Zähnen ins Innere verschwand.
    Mittlerweile war der Sonnenstrahl weitergewandert und hatte das Gesicht des Jesuskindes in helles Rot getaucht. Lea fuhr mit dem Zeigefinger die hölzernen Lippen des heiligen Kindes entlang. Sie waren warm. Dann umkreiste sie die Skulptur, bis sie zu dem rechten Ohr der Madonna gelangte. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um es zu erreichen.
    »Ich wünsche mir«, begann sie leise zu flüstern, dann verstummte sie und erzählte in stillen Gedanken Maria alles, was sie an Bitten auf dem Herzen hatte. Anschließend zündete sie eine Kerze an und steckte sie in die eiserne Halterung.
    Lea war so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich hinter ihr langsam die Tür öffnete und eine Gestalt in den Raum geschlichen kam. Geräuschlos bewegte diese sich nach vorn zum Altar, bis sie schließlich dicht hinter Lea stand. Sie öffnete den Mund und hauchte ihr ins Ohr: »Warum suchst net? Du solltest suchen.«
    Lea fuhr herum.
    Vor ihr stand die schwarze Frau, mit tiefen Falten und trüben, bläulichen Augen. Ihre knochigen Hände umfassten Leas Arme und hielten sie fest wie Schraubstöcke. Obgleich Unheimliches in ihrem Ausdruck lag, verspürte Lea keine Angst vor ihr.
    »Hörst net sein Rufen? Du solltest suchen!«, wisperte die schwarze Frau. Verschwörerisch äugte sie hinüber zur Mutter Gottes. »Sie kann sprechen, glaubst mir das? Die heilige Maria kann sprechen. Weißt, was sie mir g’sagt hat? Du hörst es, ja das hat’s g’sagt. Und dann hat’s noch g’sagt: Läut die Glocken, damit er weiß, dass du kommst, jetzt, denn jetzt hört er es, das Rufen Gottes. Mein Sohn, verstehst du? Mein kleiner Sohn wartet.« Frohlocken lag in ihrer Stimme.
    Dann ließ sie Leas Hände los und verschwand hinter dem Altar durch eine kleine Tür. Kurz darauf ertönte ein Klingen. Zuerst zaghaft, doch dann wurde die helle Glocke der Kapelle lauter und schneller, bis sich ihre Klänge überschlugen. Als sich in die wilden Glockenschläge schrilles Schreien mischte, krabbelte die Spinne aus Marias Mundhöhle hervor und ließ sich am seidenen Faden zu Boden gleiten, wo sie in einer Holzritze verschwand.
    In diesem Moment betrat Cilli, die Taubstumme, die Kapelle, nahm Lea an der Hand und führte sie nach draußen. Setz dich hin, keine Angst, besagten ihre Gesten. Dann ging sie wieder hinein, es dauerte eine kurze Zeit, bis das Läuten schließlich verhallte und sie mit der schwarzen Frau an der Hand zurückkehrte. Diese blickte in Leas Augen, milde lächelnd, bis Cilli den Arm um sie legte und sie zurück zum Hof führte.
     
    Überall stand sie, in den schattigen Wäldern, den tiefen Kellern, den dunklen Ställen, in jeder winzigen Ritze, sogar in den Felsspalten. Überall begegnete man ihr, der unbarmherzigen Hitze.
    Sie entzog den Ästen ihre Säfte. Die Farben der Blätter und Nadeln verblassten. Die Blumen streckten sich nicht mehr zum Himmel, sondern hatten ihre Köpfe gen Boden gesenkt. Nun lagen sie schlaff da, wie Verdurstende über dem Waldboden ausgebreitet, unter ihnen hatten sich Käfer und Würmer verkrochen. Die Murmeltiere verzogen sich tief ins Innere ihrer Höhlen, die Vögel tauchten ihre Flügel in die kleinen Pfützen, die der schwindende Bach am Rande seines Bettes gebildet

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