Himmelsspitz
die Farbe, was meinst?«
»Wer ist denn gestorben von der Frau? Ihre Mutter?«
»Die ist schon lange tot.«
»Oder der Vater?«
»Lea, müssen wir denn bei so an schönen Wetter von den Toten redn?«
Lea knabberte an ihren Fingernägeln. »Die schwarze Frau ist traurig.«
»Ja, du hast recht, sie ist traurig.«
»Dann konnte ihr die Muttergottes nicht helfen. Oder?«
»Ja, ja, kann sein, ja, vielleicht hast recht. Gibst du mir amal den Spachtel, der da aufm Tisch liegt?«
»Warum konnte die Muttergottes nicht helfen? Wollte sie nicht?«
Karl gab keine Antwort. Er zuckte mit den Schultern und machte ein ernstes Gesicht. »Gott stellt die Menschen auf die Probe«, sagte er dann.
»Lea, ich mach dir einen Vorschlag. Wir gehen zusammen in die Kapelle, dann kannst du sie dir mal ansehen, die Heilige Maria? Ja? Vielleicht hast du ja auch an Wunsch, den du der Muttergottes erzählen magst.«
Lea nickte.
Karl ging ins Haus und holte den Schlüssel, dann bückte er sich, hob Lea in die Höhe und setzte sie auf seine Schultern. Mit mächtigen Schritten stapfte er durch den Ort, Lea fühlte sich wie auf einem großen Kahn, der von den Wellen hin-und hergetragen wurde. Als sie bei der Pension Fender vorbeikamen, rief der Riese Frau Fender, die gerade ein paar Gläser auf das Tablett stellte, zu:
»Hallo Mutter, sieh mal, was für eine schöne Prinzessin ich auf den Schultern trage.«
Frau Fender lächelte und winkte. »Schön, mein Sohn, schön.«
Als Karl die schwere hölzerne Tür geöffnet hatte, entwich kühle Luft nach draußen. Sie roch nach einem Gemisch aus Weihrauch und Kerzen. Die Sonnenstrahlen bündelten sich im roten Fensterglas und hinterließen auf dem Steinboden eine Spur, die aussah wie ein Blutstrom. Sie führte direkt zur Muttergottes, die am Ende des Raums stand. Es war eine große Figur, größer als Lea. Sie beugte ihr Haupt zum kleinen Jesuskind, das, nur mit einer Windel bekleidet, auf ihrem Schoß saß, die Ärmchen nach oben streckte und lachte.
»Unser Sohn Gottes, sieh, wie glücklich er ist«, sagte Karl, der sich auf eine Kirchenbank setzte, weil er andernfalls gekrümmt hätte stehen müssen, so niedrig war die hölzerne Decke der Kapelle. Lea setzte sich zu ihm. Hinter der Skulptur hing der Sohn Gottes, gekreuzigt und überall blutend mit Gedärmen, die aus seinem Körper quollen. Sein Kopf hing zur Seite, die Augen waren geschlossen und der Mund leicht geöffnet.
Neben der Skulptur war ein Eisentisch, in den Kerzenhalter eingearbeitet waren. In den meisten von ihnen steckten weiße Kerzen, die zum größten Teil abgebrannt waren.
»Was ist, möchtest du auch eine Kerze anzünden?«
Lea nickte. »Hier hast du Streichhölzer«, sagte Karl und kramte in seiner Westentasche. Dann erhob er sich wieder. »Ich denke, ich lass dich allein, denn dann gehen die Wünsche am ehesten in Erfüllung. Man kann dann nämlich am besten beten.« Er lachte und stapfte nach draußen. »Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest. Sperr einfach die Tür ab, wennst wieder gehst, und bring mir dann den Schlüssel. Ich geh schon amal nach Hause, ist bald zwölf, meine Frau schimpft mich, wenn ich zu spät zum Essen komm.«
Dann war Lea allein.
Zusammen mit Maria, Jesus und ein paar Engeln, die auf den kleinen Bildern hinter dem Altar abgebildet waren. Still saß sie da, bewegungslos wie die geschnitzten Heiligen um sie herum, und musterte die große Muttergottes. Sie trug eine Krone, wie eine Königin. Ihre langen braunen Haare fielen auf den blauen Umhang, den sie trug. Sie war eine schöne Mutter mit einem schmalen, zarten Gesicht.
Zu ihr also hatte die schwarze Frau gebetet. Lea überlegte, wie es sich verhielt mit dem Beten und Bitten. Sollte man die Wünsche aussprechen, flüstern oder im Stillen denken? Und was alles gab es zu wünschen und zu hoffen? Sie hatte einen Wunsch, auch wenn Horst immer sagte, an diesen ganzen Gotteskram würden nur Kreuzdumme glauben. Sie würde Maria bitten, dass das schwarze Loch im Traum, in welches der Pfad mündete, aufhören sollte, sie zu schrecken. Stattdessen würde sie weitergehen, weiter und weiter, bis hinauf zum Gipfel. An einem Tag, an dem es wolkig ist, denn dann würde sie vielleicht die Toten sehen. Und dann würde sie nachsehen, ob ihr Vater sich ins Reich des Himmels verzogen hatte. Oder ob er noch lebte. Lea hatte noch viele andere Wünsche. Sie drehten sich um ihre Mutter mit ihren roten Flecken, ihrer Fahrigkeit und ihrer Ungeduld. Und um
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