Himmelsspitz
zu singen: »Genau ins Herz, wo de Liab drin sitzt.« Er jodelte und juchzte, auf schauerliche Weise, zwischen Kopf-, Bruststimme und Schluckauf jonglierend, alles durcheinander, was er im Lauf seines langen Lebens gelernt hatte. Dabei hüpfte er zwischen Alm-, Klage-, Kinder-, Weihnachts-und Kirchenliedern hin und her, und der Alkohol gestaltete die ohnehin schrägen Töne und Worte zu einem argen Wirrwarr. Zu diesem begleitete er sich selbst wild fuchtelnd auf einem Lufthackbrett. Karl, dem die Ohren schmerzten, war dankbar, dass Luft klanglos war.
»Oswin, net so laut, hör auf!«, rief er verzweifelt, doch der alte Kneisl johlte zurück: »Wenn mir das Leben doch grad so g’fallt, lass mich singen.«
So kam es, dass die beiden den Donner nicht hörten, der in den Bergen hinter Fuchsbichl bedrohlich grollte. Und weil der Wald den aufkommenden Sturm zunächst noch abfing, bemerkten die beiden Männer auch diese Vorboten des Himmelsheers nicht. Bis sie auf die Lichtung kamen, denn dort packte ein zorniger Windstoß Oswins Hut und blies ihn den Abhang hinunter.
»Au wei, gleich geht’s los, Oswin, setz dich her, pass auf, dass es dich nicht wegweht, ich komm gleich wieder. Hol schnell den Hut.« Dann rannte er, so flink wie seine langen Beine konnten, hinter dem tanzenden Hut her.
Als Karl wenige Minuten später zurückkehrte, lag Oswin laut schnarchend im Gras. Schuhe und Socken hatte er sich ausgezogen und fein säuberlich neben sich gestellt, als hätte er sich in sein Bett schlafen gelegt. Die ersten Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht, doch der Kneisl versuchte, sie im Schlaf wie lästige Fliegen wegzuwedeln.
»Darf doch net wahr sein«, schrie Karl gegen den inzwischen aufkommenden Sturm an, »Oswin, aufwachen. Wir müssen schaun, dass wir heimkemma, bevor’s uns wegweht oder fortspült.«
Wind und Regen fegten nun durch den Wald, dass die Bäume knackten. Ihre Stämme schlugen aneinander, und die ersten Äste krachten zu Boden. Karl fluchte. Warum musste ausgerechnet er nach den Frauen sehen. Wie wär’s mit Vater oder Robert gewesen? Der Urban war ja verschwunden, hat wohl seinen Rausch irgendwo ausgeschlafen. Willst nicht den Oswin auch gleich mitnehmen? Hatten sie ihn gefragt und gelacht.
Karl hob die schweren Lederschuhe des alten Mannes auf, steckte die Socken hinein und band sie sich an den Gürtel. Dann zog er den Kneisl am Janker in die Höhe und packte ihn quer über seine Schulter, wie Frauen es mit einem Tuch tun. Während er den alten Mann den Berg hochschleppte, entließen die schwarzen Wolken eine Wasserflut, wie sie Karl noch nie erlebt hatte. Äste krachten links und rechts neben ihm auf den Boden. Der Sturm peitschte ihm in das Gesicht, sodass Karl nur mit Mühe auf dem Pfad bleiben konnte. Seine Filzjacke hatte sich mit Wasser vollgesogen und wog fast noch schwerer als der alte Mann. Der lag tief atmend auf seinem Packesel und schmatzte zufrieden.
Dennoch musste Karl inmitten der Düsterheit der Naturgewalt, die über sie einbrach, lächeln, denn in seinen Gedanken begleitete ihn das heitere Gesicht von Paula. »Paula, ach Paula, bist so a Fesche«, murmelte er leise im Sturmgebrause.
Als Karl die Wolfsschlucht, in der das Wasser kaskadenartig in die Tiefe klatschte, durchquert und den Lerchenwald erreicht hatte, hörte er sie in der Ferne läuten, die hellen Glocken der Kapelle. Sofort ließen sie Karls Puls schneller schlagen, denn niemand in Fuchsbichl verband mit diesen Klängen so viel Arges wie er. Selten nur ertönten im Weiler die Glocken, nur wenn der Pfarrer vom Tal kam, vor allem aber dann, wenn Gefahr herrschte und jedermanns Hilfe gebraucht wurde. Und damals war das Unheil groß, damals, als er, Karl, als kleiner Bub heimlich probieren wollte, wie Vaters Zigaretten schmeckten. Er saß gerade paffend und hustend auf dem Heuboden, als er durch die Balkenritzen seinen Vater kommen sah. Flugs warf er die Kippe ins hinterste Eck, wo sie die Heublumen ansteckte, während Karl, nicht ahnend, was gleich folgen würde, flink die Leiter nach unten kletterte, den Eimer packte und die Säue tränkte, wie es der Vater ihm aufgetragen hatte. Kurze Zeit später war es um die Säue geschehen. Und nicht nur um sie.
Seit diesem Tag jagten ihm die Glocken wahre Panik ein, denn sie erinnerten ihn nicht nur an die Feuersbrunst, die seine Neugierde entfacht hatte, sondern auch an das jähe Ende seiner bis dahin weitgehend unbeschwerten Kindheit und an den Beginn seiner gefährlichen,
Weitere Kostenlose Bücher