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Himmelsspitz

Himmelsspitz

Titel: Himmelsspitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Tramitz
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Hoffnung, die Zeit würde es schon richten, wenn sie für ihn tickte: Er müsste nur das Fegefeuer verlassen, bevor man den Bub, vielmehr seine Reste finden würde. Und das wurde von Jahr zu Jahr unwahrscheinlicher. Irgendwann hört ein jeder auf zu suchen. Tremplerbauer!, frohlockte Urban manchmal. Hast dich täuscht, schwer täuscht, wennst g’meint hast, dass dich mit dem Kraxner anlegen kannst. Nicht jedes Vergehen werd g’sühnt, nicht jedes. Weil Gott es manchmal net will.
    Aus! Über Weiteres wollte Urban diesbezüglich nicht sinnieren. Zeit zum Schlafen, die ersten Sterne zeigten sich am Himmel.
     
    Als Isabel ins Freie trat, nieselte es nur noch feine Tropfen aus grauen Wolken. Sie öffnete den Schirm und eilte durch die Gassen zur Werkstatt. Dort klopfte sie an die Tür. Weil niemand antwortete, trat sie in den dunklen Raum. Die Lampe auf dem Tisch leuchtete schwach, doch eines erkannte Isabel sofort: Die Karte lag nicht mehr an ihrem alten Platz.
    Ratlos setzte sie sich auf das Holzfass und dachte nach. Wo war Fertl? Nach einer Weile stand sie wieder auf, verließ den Raum und sah sich draußen um. Vom Schnitzer weit und breit keine Spur.
    »Fertl«, rief sie mit unterdrückter Stimme, wartete einen kurzen Augenblick in der Stille und kehrte zurück in die Werkstatt.
    Zögerlich näherte sie sich dem Tisch, warf einen kurzen, absichernden Blick zur Tür und öffnete dann mit klopfendem Herz die Schublade. Dort lagen, sorgfältig aufeinandergeschichtet, allerlei Zettel. Auf die einen waren Gedichte geschrieben, die anderen waren mit Skizzen von Krippenfiguren, Jesuskindern und Himmelsspitzen bemalt. Eilig kramten ihre Finger in Fertls Papieren, wirbelten sie durcheinander, knickten die Ecken, zerstörten die Sorgfalt. Wie im Rausch und gleichzeitig das schlechte Gewissen im Nacken spürend, wühlte Isabel, bis sie tatsächlich fand, was sie suchte.
    Ganz unten, auf dem Boden der Schublade, da lag sie, die Speicherstadt des Hamburger Hafens.
    Mit zitternder Hand fischte Isabel sie heraus. Julius, ach Julius, das kann doch kein Zufall sein, dachte sie. Das Bild der Speicherstadt ließ ihr Herz vor Aufregung wilde Sprünge machen. Dann wendete sie die Karte und begann zu lesen.
    Mein bester Fertl, stand dort geschrieben. Bevor ich übersetz, von der alten Welt in die neue, schick ich dir noch schnell diese Karte. Hier steh ich grad, gehe mit schwerem Herzen, das seit gestriger wunderschöner Nacht wieder zu klopfen begonnen hat. Hier in dieser Speicherstadt.
    Sobald ich drüben bin und weiß, wo ich bleibe, dann kommt’s mich besuchen! Alle, die noch wollen!
    Pass auf dich auf, bleib gesund. Du fehlst mir, mein Freund.
    Dein Luis.
    Isabel ließ sich auf Fertls Schemel nieder und atmete tief durch.
    Sie spürte ihr Blut durch die Adern rasen, von den Zehenspitzen hinauf bis zu den Haarspitzen, alles pochte. Sie legte die Karte an ihr Herz. In die neue Welt ist er gegangen, sagte sie tonlos zu sich. In die neue Welt. Amerika. Ihr wurde schwarz vor Augen.
    Da fuhr ein Windhauch durch das Geäst, dass es an die Fenster schlug.
    »Er ist verkohlt«, hörte sie eine Stimme sagen. Fertl stand im Türrahmen und hielt die Muttergottes im Arm. Isabel sprang vom Schemel. Die Karte segelte zu Boden.
    Fertl trat näher, hielt Isabel die Statue vor die Augen und sagte: »Schau, das Jesuskind hat sich den Fuß angeschwärzt. Mal sehen, was man da machen kann. Derf ich?« Er schob Isabel zur Seite, nahm auf seinem Schemel Platz und begann, den Christusfuß mit einem weichen Tuch zu polieren. »Ein paar Minuten später wärs um den Fuß vom Herrn g’schehen gewesen.« Er zog die Tischlampe zu sich, um besser sehen zu können. »Hast die Glocken läuten g’hört, gestern Mittag?«
    Isabel schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht«, antwortete sie, sichtlich erleichtert, dass er ihre Indiskretion nicht angesprochen oder womöglich gar nicht bemerkt hatte. Fertl legte den Lumpen auf den Tisch und griff zur Stahlbürste.
    »Sanft geht’s nicht, verzeih mir, Herr«, sagte er und begann am Ruß zu schrubben. »Willst dich net wieder setzen? Das Fass hab ich noch net weggräumt, wusst, dass’d wiederkommst.«
    Isabel schwieg und nahm Platz.
    »Gestern Mittag ist’s g’schehn«, erklärte er nach einer Weile. »Deine Tochter hat die Muttergottes besucht.«
    »Das wusste ich nicht«, antwortete Isabel.
    Fertl pustete den gelösten Ruß vom Fuß. »Den reparier ich so, dass man nichts mehr sieht. Farbe drüber, wird schon

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