Himmelsspitz
Stumme immer gekonnt, dachte Urban dann.
Ja, der Kraxnerbauer spielte inzwischen eine genauso unbedeutende Rolle in der Welt der Fuchsbichler wie sein Holzbein. Die Besuche galten einzig Agnes’ Seelenheil und nicht dem seinen. Er war nichts anderes mehr als irgendeine Materie, auf deren Auflösung man wartete, die einen – Vinzenz – ungeduldig, die anderen bangend, denn eine derartig zähe und langwierige Auflösung hatte man in Fuchsbichl noch nie erlebt.
Wenn sie alle so zusammensaßen, um ihrem Gewissen Gutes zu tun, unterhielten sie sich über die Geschehnisse im Weiler, der inzwischen ein solcher nicht mehr war, sondern zu einem großen Ort gewachsen war. Oh, die Zeit hatte vieles verändert: Die Straße war gebaut worden, und auf der kamen die Fremden. Sie bevölkerten den Weiler, nahmen ihn derart in Besitz, dass die alten Fuchsbichler Häuser untergingen zwischen all den großen Hotels. Doch erzählten und schwärmten sie immerfort von Roberts Weitsicht, Cillis Fleiß und der Zwillinge Geschick, welche den Granbichlers zu dem größten Hotel im Ort verholfen hatten. Hotel Himmelsspitz. Donnerwetter!
Die alte Magd Maria war verstorben, Josefa hatte einen Knecht geheiratet, der Ruckkorbkarl, ausgerechnet der hatte das Herz der feschen Bedienung erobert und lebte glücklich in Oswins altem Häuserl.
Ach, was Urban nicht alles erfahren durfte und musste an diesen vielen Sonntagen.
Eine Sache bewegte seinen Kopf jedoch derart, dass er bislang außerstande war, sie mit Willenskraft auszulöschen.
Es war der Wettlauf mit der Zeit.
Urban hasste die Zeit. Sein halbes Leben war sie ihm davongaloppiert, und er war mit seinem Holzbein hinterhergehumpelt.
Außerdem brachte die Zeit Veränderungen mit sich, die er nicht mochte. Die Zeit hatte ihn alt werden lassen, sie hatte ihn verhöhnt, wenn sie ihm verdeutlichte, dass er nicht mehr mithalten konnte mit den anderen.
Seit dem Tag, an dem die Mure den Berg hinabgedonnert kam, führte er den letzten und gleichzeitig anstrengendsten Kampf gegen die Zeit, weil sie hier in der stillen Kammer hauste, ihn verhöhnte, weil sie nicht verging. Vor allem aber, weil sie ihn am Sterben hinderte. Wie lange sollte er noch hier im Fegefeuer weilen? Genug, befand er. Es war genug Zeit verstrichen! Worauf nur wartete das Jüngste Gericht? Der Heilige Michael, wann entschied er sich endlich? Hatte Urban nicht Buße getan, durch all das Leid hier in der Stube?
Doch ahnte der Kraxner, dass bald die wahre, die gerechte Zeit kommen würde, weil die Glocken geläutet hatten, die Totenglocken, wie er meinte. Vorgestern hatte er sie in den frühen Morgenstunden vernommen, hell und lockend klangen sie. Bald würde es so weit sein, da war sich Urban sicher. Er würde sein Holzbein anschnallen und loshumpeln, nach oben, denn Gott müsste ihn aufnehmen, in sein Reich, schließlich trug Urban, dessen war er sich gewiss, nicht an allem Schuld. Denn: Hätte der Herrgott nicht sein grausames Himmelsheer geschickt, wär’s nicht passiert. Urban hätte den Bub wieder rausgeholt aus dem Loch. Nur ein paar Stunden hätte er ihn drinnen gelassen, bis der Bengel sich besonnen hätte und ihm den zweiten Fetzen Papier gegeben hätte. Oh, wie perfide der alte Tremplerbauer vorgegangen war! Alles aufgeschrieben hatte er für die Nachkommen, welches Verbrechen auf des Kraxnerbauern Schulter lag: der Tod eines Kameraden, der großen Silbertaler willen.
Und dieser Tremplerenkel, dieser Tobi!
Warum nur hatte er die Zeilen finden müssen? Wurzl, dieser Scheißköter, ja bei dem hatte alles angefangen. Urbans Gedanken jagten sich gegenseitig, dass dem Kraxner ganz schwindlig wurde.
Wie war es Tobi ergangen, in seinem dunklen Keller?
Die Mure, sie war schuld, er hätte ihn ja wieder rausgelassen, hätte die Mure nicht sein Bein zerschmettert.
Welche Qualen hatte er erlitten?
Ein paar Stunden nur hätte er ihn schmoren lassen, in der Tiefe. Mehr nicht! Sicher, sicher.
Welcher Tod hat ihn heimgesucht?
Verdurstet ist er, ja, schrecklich. Ich kenn das, Durst, Durst. Agnes, wann kommst?
Verwesung? Wie die Tiere auf dem Misthaufen, voller Würmer.
Welche Überreste?
Welche Beweise, Reste des kleinen Tremplerenkels? Und würde man diese finden, bevor Urban ins Jenseits beordert würde?
Welche Qual bedeuteten all diese schrecklichen Gedanken. Deswegen musste Urban gegen sie kämpfen! Kaum drohten sie ihm in den Sinn zu kommen, hatte er die Quälgeister in kleine Schnipsel zerhackt, stets in der
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