Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Eltern vor den Traualtar geführt haben mögen, ist nach über zweihundert Jahren nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Immerhin geht aus den Zürcher Tauf-, Ehen- und Totenbüchern hervor, dass Bräutigam Johannes erst wenige Tage vor der Hochzeit aus Tübingen, wo er in Medizin doktoriert hatte, zurückgekehrt war, und dass Sohn Hans Jakob schon vier Monate nach der Trauung, am 30. Dezember 1798, zur Welt kam.
Auch über Hans Jakobs Kindheit weiß man wenig. Vorerst arbeitete der Vater bescheiden als Stößer in der Apotheke Meyer, mit deren Besitzer er übrigens nicht verwandt war. Trotzdem scheint die Familie finanziell rasch vorangekommen zu sein; 1803 konnte Johannes das Haus«Zur Sichel»kaufen, und 1805 erbat er vom Sanitätskollegium die Bewilligung, in Zürich nicht mehr nur als Apotheker, sondern als Arzt praktizieren zu dürfen.
Am 16. November 1809 aber starb seine Frau Elisabeta und ließ ihn mit zwei Buben und dem Haushalt allein zurück. Es war wohl schlicht eine Frage des Überlebens, dass er schon ein halbes Jahr später erneut heiratete, diesmal eine Arzttochter namens Andrea Andres aus Amriswil, die sechzehn Jahre jünger war als die Verstorbene. Sie brachte nebst ihrer Aussteuer auch gleich ihre Mutter mit ins Haus«Zur Sichel», und sechs Monate nach der Hochzeit schenkte sie Johannes Meyer einen dritten Sohn, der auf den Namen Albert getauft wurde.
Was der älteste Sohn, der zwölfjährige Hans Jakob, vom plötzlichen Familienzuwachs hielt, weiß man nicht. Vielleicht vertrug er sich nicht mit der neuen Stiefmutter, oder er empfand den väterlichen Lebensmut als Verrat an der verstorbenen Mutter; möglicherweise rebellierte er auch ohne äußeren Anlass, um dem Schatten des Vaters zu entkommen. Jedenfalls ging er schon früh eigene Wege. Vorerst trat er zwar scheinbar in die väterlichen Fußstapfen, besuchte die Lateinschule und begann eine Apothekerlehre. Aber als er sechzehn Jahre alt war, kam es zur Trennung, ausgelöst durch ein Ereignis am anderen Ende der Welt.
Im April 1815 nämlich brach im fernen Indonesien der Vulkan Tambora aus und spuckte derart viel Asche in die Atmosphäre, dass es auf der ganzen Welt zwei Jahre lang keinen Sommer gab. In Europa kam es zu katastrophalen Missernten, in der Ostschweiz starben Tausende den Hungertod. In St. Gallen, Winterthur und Zürich stiegen die Lebensmittelpreise ins Unermessliche. Die einfachen Leute litten Hunger, viele starben. Die Städte leerten sich, die Menschen zogen aufs Land, weil es dort einfacher war, etwas Essbares zwischen die Zähne zu bekommen. Johannes Meyer verkaufte das Haus«Zur Sichel»und ging mit seiner Familie nach Elgg im Zürcher Oberland. Der erstgeborene Hans Jakob aber ging nicht mit, sondern zog auf eigene Faust durch die Dörfer.
Dem Vernehmen nach war er ein charmanter, gut aussehender Bursche, dem es nicht schwerfiel, die Herzen fremder Leute zu gewinnen. Nach wenigen Wochen, am 24. April 1817, heiratete er eine Salomea Staub aus Hombrechtikon, dreiundzwanzig Jahre alt und die Tochter des Kirchenpflegers. Die Ehe war von Anfang an ein Desaster. Nach der Hochzeit musste die unglückliche Braut nämlich zur Kenntnis nehmen, dass Hans Jakob wenig Zeit zu Hause verbrachte, weil er Affären mit anderen Frauen hatte und sein Geld bei Wein und Glücksspiel verprasste. Als er nach nur zwei Monaten dem ehelichen Heim vollends den Rücken kehrte, reichte Salomea Scheidungsklage ein wegen«Austritts aus der Ehegemeinschaft», worauf das Ehegericht die Verbindung – die Gott sei Dank kinderlos geblieben war – ohne große Umstände auflöste.
Weshalb die beiden überhaupt geheiratet hatten, bleibt ein Rätsel. Am wahrscheinlichsten scheint, dass Hans Jakob hauptsächlich die Aussicht lockte, im Haus des Kirchenpflegers täglich einen gedeckten Tisch vorzufinden, und möglicherweise hat er, als er im Sommer 1817 verschwand, irgendwo einen besser gedeckten Tisch gefunden. Vielleicht ist er aber tatsächlich, wie er später behauptete, aus Abenteuerlust nach Paris ausgerissen und konnte sich dort Zugang zu den besten Kreisen verschaffen. Schon am 14. Juli 1817 – nur drei Monate nach der Heirat – will er zu Besuch bei der berühmten Madame de Staël gewesen sein, in deren Salon die größten Philosophen und gekrönten Häupter Europas verkehrten. Dass sie dem achtzehnjährigen Schweizer eine Audienz gewährte, scheint erstaunlich, aber nicht unmöglich, da sie ja selbst die Tochter eines Genfer Bankiers war. Verbürgt
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