Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Geschäftshändeln vor Gericht.
Was aus dem Fisch geworden ist, kann niemand sagen. Verbürgt ist, dass Ballonbauer Aimé Bollé sich in London mit Durs Egg zerstritt und sich vor seiner Abreise notariell bestätigen ließ, dass er«deux grands et superbes ballons»für das Luftschiff fertiggestellt habe, und zwar«parfaitement bien». Sicher ist auch, dass Bollé eineinhalb Jahre später, am Abend des 27. August 1818, auf den Champs-Élysées bei Feuerwerk und musikalischer Begleitung einen sechsundneunzig Fuß langen Wal aus Ochsendarm in die Luft steigen ließ. Wie die Zeitung La Quotidienne am folgenden Tag schrieb, beehrten der Herzog und die Herzogin von Berry das Fest mit ihrer Anwesenheit, und mehrere Berühmtheiten seien inkognito dabei gewesen. Ob das nun aber Paulys Luftschiff war, das Bollé möglicherweise an sich genommen hatte, weil Egg ihn nicht auszahlte, weiß man nicht. Vielleicht hatte er den Fisch auch nachgebaut, und das Original war im Hangar beim Hyde Park geblieben und lag dort Jahr um Jahr und Jahrzehnt um Jahrzehnt, bis die siebzigtausend Ochsendärme brüchig wurden und zu Staub zerfielen.
Möglicherweise aber, und das wäre das schönste Ende der Geschichte, erhob sich das Luftschiff viele Jahre später doch noch in den Himmel. Es ist nämlich überliefert, dass im Herbst 1844 eine US-amerikanische Artistentruppe, die im Zoologischen Garten von Surrey gastierte, einen Luftballon in Form eines Fliegenden Fisches vorführte. Ob das nun John Paulys Ballon war oder eine Nachbildung, weiß man nicht. Direktor Phineas T. Barnum hatte ihn in London gekauft – von wem, bleibt im Dunkeln. Unbestrittener Star der Artistentruppe war ein kleinwüchsiger Mann von fünfundachtzig Zentimetern Körpergröße, der auf den Künstlernamen«General Tom Thumb»hörte, mit seinen Possen europaweit berühmt geworden war und zweimal im Buckingham Palace Königin Victoria seine Aufwartung hatte machen dürfen. Dem Vernehmen nach soll die Monarchin General Tom Thumbs Paradenummer umwerfend komisch gefunden haben, bei welcher der Knirps als Kaiser Napoleon verkleidet in Uniform und Dreispitz über die Bühne stolzierte, dabei unablässig Tabak schnupfte und über die verlorene Schlacht bei Waterloo nachsann. Zum Abschluss der Schau bestieg er jeweils die Gondel des Fliegenden Fisches, drehte hoch über den Köpfen der Zuschauer eine Runde durch den Zoologischen Garten und sang dazu den«Yankee Doodle», während vierzig Männer den Ballon an Seilen festhielten, damit der kleine Napoleon nicht vom Winde verweht wurde. Eines Tages jedoch erfasste eine Bö das Luftschiff, worauf die Hälfte der Männer die Seile losließ und die andere Hälfte in die Luft gerissen wurde; und wären nicht in höchster Not zweihundert Zoobesucher zu Hilfe geeilt, wären der Fliegende Fisch und General Tom Thumb auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
6 Hans Jakob Meyer
Als der englische Dichter Lord Byron, den die romantische Jugend Europas als den größten Poeten seit Shakespeare verehrte, 1824 im griechischen Hafenstädtchen Missolunghi sechsunddreißigjährig starb, lag er in den Armen eines Hans Jakob Meyer aus Zürich, der ein falscher Arzt, Schuldenmacher und Frauenheld, aber auch ein großer Kämpfer für die Freiheit Griechenlands war. Byrons Herz wurde an Ort und Stelle begraben, sein balsamierter Leichnam nach England gebracht. Und während Madame Tussaud in London eine Wachsfigur des Dichters anfertigte, rüstete in Griechenland Hans Jakob Meyer zum letzten Gefecht gegen die Türken.
Seine Kindheit und Jugend hatte er in Zürich im Haus«Zur Sichel»am Rindermarkt verbracht, wo unmittelbar nach ihm Gottfried Keller aufwachsen sollte. Das ist reiner Zufall, hat keinerlei Bewandtnis und erklärt sich schlicht durch den Umstand, dass das vorindustrielle Zürich eine Kleinstadt von fünfzehntausend Einwohnern mit einer recht übersichtlichen Zahl von Bürgerhäusern war.
Sein Vater war Apotheker, die Mutter Bauerntochter aus dem nahen Schwamendingen. Zufälligerweise hatten sie beide denselben Jahrgang wie Marie und François Tussaud – sie
1761 geboren, er acht Jahre später. Dass junge Männer deutlich ältere Frauen heirateten, war damals ebenso unüblich wie heute, in Zürich wie in Paris, aber es kam vor – meist wegen unerwarteten Eintretens anderer Umstände, manchmal aus pekuniären oder amourösen Gründen, zuweilen auch aus ganz anderen, nicht mal dem Brautpaar bewussten Motiven. Welche Umstände Hans Jakobs
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