Himmelssturz
alle hatten tun müssen, und sie hatte sich mit der Tatsache abgefunden, dass sie ihre Familie nie wiedersehen würde. Das war eine schmerzhafte und grausame Erfahrung gewesen, aber irgendwie hatten die meisten Besatzungsmitglieder darüber hinwegkommen müssen. Ein Teil des Heilungsprozesses bestand darin, zu akzeptieren, dass das Leben zu Hause unweigerlich weitergehen würde und dass Freunde und geliebte Menschen ebenfalls einen Weg finden mussten, um ihr Leben fortzusetzen. Wenn man einen geistigen Zustand erreichte, in dem man glaubte, dass die Menschen zu Hause glücklich waren oder zumindest nicht in ständiger Trauer verharrten, war es möglich, sich auch auf Janus etwas glücklicher zu fühlen. Das bedeutete nicht, dass man alle anderen Menschen vergaß oder dass der Trennungsschmerz verschwand. Es ging nur darum, zwischen den auseinander gerissenen Parteien zur einer Art unausgesprochenen Übereinkunft zu gelangen, dass das Leben weitergehen musste.
Aber im alten Buenos Aires war das Leben nicht weitergegangen.
Im Jahr 2063, nur sechs Jahre nach dem Aufbruch der Rockhopper, hatten sich Hacker Zugang zu einem Satellitenkraftwerk verschafft und den Übertragungsstrahl auf Buenos Aires gerichtet. Zwei Komma acht Millionen Menschen waren im Feuersturm getötet worden, der die Stadt vernichtet hatte, hauptsächlich die Holzhütten in den Slums von La Boca. Die Familie von Gabriela Ramos war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unter den Toten.
Bella wollte nicht mit ansehen, wie Ramos von dieser Nachricht erschüttert wurde. Das Wissen würde sie zerstören und den Menschen in ihrer Umgebung Grausames antun. Die Wellen der Trauer würden schließlich jeden auf Janus berühren. Darauf konnten die Menschen verzichten – und Gabriela Ramos erst recht.
Also blieb Bella bis spätabends wach und ging die neusten Datenlieferungen durch, die von den Perückenköpfen freigegeben worden waren. Sie überzeugte sich davon, dass die automatischen Editiersysteme nichts übersehen hatten. Gelegentlich rutschte doch etwas durch, eine indirekte Erwähnung des Ereignisses, ohne dass von Buenos Aires selbst die Rede war. Doch schon so etwas konnte genügen, die Neugierigen auf eine gefährliche Suche nach weiteren Daten zu schicken. Bella zensierte alles, was auch nur entfernt mit der grausamen Tat in Verbindung stand.
Aber auch das reichte noch nicht.
Nachdem sie ihre Arbeit getan hatte, prangte ein großes Loch an der Stelle der Welt, wo sich früher Buenos Aires befunden hatte. Natürlich interessierte sich Ramos für die künftige Geschichte der Stadt, in der sie geboren worden war. Also musste Bella gerade genug Geschichte dazuerfinden, damit es überzeugend wirkte. Sie durchsetzte die echten Nachrichten mit kleinen Notlügen, damit Ramos nicht auf die Wahrheit gestoßen wurde. Natürlich nichts über ihre Familie, aber genügend Informationen, damit sie sich der tröstenden Phantasie hingeben konnte, dass sie alle wieder ein normales, glückliches Leben führten und niemals in einer Feuersbrunst gestorben waren.
Doch es hörte nicht mit Gabriela Ramos auf.
Ihr Fall war der extremste und erforderte die brutalsten Eingriffe in die Geschichte, aber es gab noch andere Menschen, die vor der Wahrheit über Freunde und Verwandte geschützt werden mussten. Als Mike Pasqualucci – einer von Parrys Bergleuten – zur Rockhopper rotiert war, hatte er auf der Erde einen Sohn zurückgelassen. Es hatte ihn am Boden zerstört, diesen Jungen zu verlieren, aber irgendwie hatte er es geschafft, sich wieder zu fangen, indem er sich in die geisttötende Routine seiner Pflichten stürzte. Er hatte diese Phase inzwischen überwunden, hatte sogar eine neue Frau und einen weiteren Sohn, aber Bella wusste, dass er immer noch an den Jungen denken musste, den er zurückgelassen hatte.
Das Problem war, dass der Junge auf der Erde auf die schiefe Bahn geraten war, als Serienmörder und Vergewaltiger auf drei verschiedenen Kontinenten. Schließlich war er in Stockholm verhaftet und verurteilt worden, und zwar zur »beschleunigten neuralen Reprofilierung«, wie es in den Zweitausendsiebzigern in der Europäischen Union üblich war. Mike Pasqualucci musste nichts davon wissen, fand Bella. Er hatte es verdient, die kostbare Erinnerung an den kleinen Jungen zu behalten, unbefleckt durch das Monster, zu dem er herangewachsen war.
Also hatte sie auch diesen Geschichtsstrang zensiert, alle Hinweise auf die Verbrecherkarriere getilgt und
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