Himmelssturz
psychische Krise durchmachen. Aber das kann ich mir einfach nicht vorstellen, Jim. Hier geht es um Svetlana Barseghian, nicht irgendeinen Neuling, der noch feucht hinter den Ohren ist. Bisher ist sie mit jedem Problem zurechtgekommen, das man sich vorstellen kann, und ich habe nie erlebt, dass ihr auch nur der Schweiß ausgebrochen wäre. Andererseits war es damals bei mir genauso.«
»Du meinst, weil es dir passiert ist, kann es auch ihr passieren?«
»Wenn man etwas einer hinreichend hohen Belastung aussetzt, wird es früher oder später versagen.«
»Einschließlich Menschen.«
»Wir sind nur kleine Rädchen in einer großen Maschine, Jim. Niemand von uns ist unfehlbar.«
Er sah sie scharf an. »Diese Geschichte scheint dich in eine Zwickmühle gebracht zu haben. War bestimmt keine einfache Entscheidung.«
»Sie hat es ziemlich negativ aufgenommen. Sie hat Dinge zu mir gesagt …« Bella schluckte. »Ich hätte sie fast geschlagen. Ich hätte beinahe meine beste Freundin geschlagen!«
»Was auch immer du getan hast, du hast bestimmt die richtige professionelle Entscheidung getroffen.«
»Das rede ich mir auch ständig ein.«
»Aber es hilft nicht.«
»Nein.«
Er griff nach ihrer Hand. In diesem Augenblick des menschlichen Kontakts verspürte Bella eine kleine Erleichterung von ihren Problemen. Sie war froh – auch wenn es egoistisch war –, dass Jim Chisholm durch seine Krankheit von seinen Pflichten entbunden war. Dadurch war es ihm möglich, so mit ihr zu reden, ohne auf das Kommandoprotokoll Rücksicht nehmen zu müssen.
»Entspannen Sie sich wieder mal, Bella Lind«, sagte er. »Das ist ein Befehl.«
Sie mailte den Entschuldigungsbrief an Schrope und beging dann den Fehler, sich zum Schlafen hinzulegen. Als der Alarm sie hochschrecken ließ, fühlte sie sich zerschlagener als vorher. Ihre Träume waren unruhig gewesen und hatten sich laufend wiederholt; sie hatte immer wieder die Geschehnisse des Tages durchlebt und das Ende der Shenzhou Fünf aus den unterschiedlichsten Perspektiven gesehen. Dann vermischten sich die Themen im Traum und verbanden den Angriff auf das chinesische Raumschiff mit dem Absturz des Flugzeugs in den hohen Bergen des Hindukusch. Sie stapfte durch knietiefen Schnee und leuchtete mit einer Handlampe in die Winterdunkelheit hinaus, um nach einem Überlebenden zu suchen. Der Traum endete jedes Mal damit, dass sie Wang Zhanmin fand, von Schnee begraben, aber immer noch im Raumanzug. Irgendwie wusste sie genau, wo sie graben musste. Sie wischte den Schnee vom Helm und sah durch die Scheibe, dass er noch lebte. Sein Gesichtsausdruck zeigte Erleichterung und Vergebung; er war einfach nur froh, dass er gerettet worden war. Dann wachte sie für einen kurzen Moment auf und schlief sofort wieder ein, worauf die Träume von Neuem begannen. Als sie sich von ihrer Hängematte wälzte, spürte sie eine schwere Last in ihrem Körper, eine chemische Schuld, die nur teilweise beglichen worden war.
Wenn das der Preis war, den sie für die Verfolgung von Janus bezahlen mussten – was würde sie dann erst erwarten, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten?
Svetlana riss sich die Überwachungssensoren von der Haut, die Axford ihr aufgedrückt hatte. Sofort stimmten die Maschinen einen schrillen, empörten Chor an. Sie stieß sie weg, worauf sie polternd zu Boden fielen, und stieg aus dem Bett. Ihre Kleidung lag ordentlich zusammengefaltet auf dem Nachttisch. Jogginghose, T-Shirt, ein kariertes Hemd, das sie offen trug. Sie fühlte sich etwas benommen, aber damit musste sie rechnen, nachdem sie so lange im Bett gelegen hatte. Sie öffnete die luftdicht versiegelte Tür zwischen dem Isolierzimmer und dem Rest der medizinischen Abteilung und hörte, wie sich Jim Chisholm hinter dem Vorhang regte.
»Svetlana?«, fragte er mit krächzender Stimme. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht es gut, Jim.«
»Was hast du vor? Du klingst, als … wäre etwas nicht in Ordnung.«
»Frag lieber nicht«, sagte sie.
»Ich weiß, warum du hier bist. Ich weiß, dass du hier bist, weil du Ärger mit Bella hattest und …«
Sie zog den Vorhang weit genug zur Seite, um sein Gesicht sehen zu können, das halb im Kissen versunken war. Neben dem Mund hatte er einen feuchtgrauen Fleck. Zum ersten Mal sah er für sie wirklich krank aus, als wäre sein Gebrechen endlich bis zur Oberfläche vorgedrungen. Woran noch vor drei Wochen niemand gezweifelt hatte – dass Chisholm die Reise zum Janus und die Rückkehr
Weitere Kostenlose Bücher