Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
Vom Netzwerk:
wusste selbst nicht so recht, wie es dazu kommen konnte. Angefangen hatte es damit, dass er beeindruckt
war. Von Annas Umgang mit Max, ihrer Sicherheit, Ruhe und Intelligenz. Zufrieden stellte er fest, dass sie genau wie er eine pragmatische Forschernatur war, kein wankelmütiger Gefühlsmensch wie die Mutter der Kinder.
    Und ganz unmerklich ging das Beeindrucktsein über in Anziehung . Annas hohe slawische Wangenknochen, der Duft, den sie im Badezimmer hinterließ, die Art, wie sie nachdenklich ihre Halskette drehte und geräuschvoll gähnte, bevor sie zu Bett ging.
    Vielleicht ist es ganz normal, dass ein Mann angezogen wird von der Frau, die mit ihm in einem Haus wohnt und sich um sein Kind kümmert.
    Die Mutter hatte sich inzwischen eine eigene Existenz in Uppsala aufgebaut. Ihre Mutter kümmerte sich um Daniel, und sie selbst arbeitete ein paar Stunden als Sekretärin am Institut für klassische Sprachen, wo ihr Vater immer noch Professor war.
    Ein Jahr später wurde das Arrangement besiegelt. Die Eltern trennten sich, der Vater heiratete Anna, die Mutter richtete sich in einer Wohnung zehn Minuten vom Haus der Eltern entfernt ein.
     
    Die Zwillinge wuchsen also getrennt voneinander auf und trafen sich nur einmal im Jahr am 28. Oktober, um gemeinsam ihren Geburtstag zu feiern.
    Vor diesen Geburtstagstreffen waren alle gespannt. Waren sich die Brüder immer noch ähnlich? Was hatten sie gemeinsam? Was war anders?
    Es wurde deutlich, dass die Jungen charakterlich sehr verschieden waren. Max war umgänglich, forsch und redete viel. Daniel war zurückgezogen und vorsichtig. Inzwischen konnte sich niemand mehr vorstellen, dass Max einmal völlig abhängig von seinem Bruder gewesen war. 
    Auch wenn sie vom Charakter her immer unterschied
licher wurden, äußerlich ähnelten sie sich immer mehr. Max, der zu Beginn kleiner und dünner als sein Bruder war, wuchs schnell, und im Alter von drei Jahren gab es, was Größe und Gewicht anging, keinen Unterschied mehr. Auch die Ähnlichkeit der Gesichter trat deutlicher hervor, nachdem Daniel seinen rosigen Babyspeck verloren hatte, und ihre Stimmen zeigten die gleiche angenehm weiche Tonlage. Als die Jungen sich an ihrem siebten Geburtstag trafen, stellten sie mit einer Mischung aus Begeisterung und Schreck fest, dass sie geradewegs in ihr Spiegelbild schauten.
    Wenn sich die beiden Lager Max-Vater-Anna und Daniel-Mutter-Großeltern einmal im Jahr zum Geburtstag der Zwillinge trafen, wurden alle möglichen Gefühle aufgerührt. Für die Großeltern war der Vater ein Verräter und Ehebrecher. Der Mutter gefiel nicht, wie Anna ihren Sohn erzog. Anna, die meinte Expertin auf diesem Gebiet zu sein, wollte sich von einer Laiin nicht zurechtweisen lassen. Und der Vater der Jungen war verwirrt, weil er seinen Sohn plötzlich in doppelter Ausführung vor sich hatte.
    Während die Erwachsenen diskutierten und stritten, liefen die Jungen in den Garten, in den Keller oder an andere spannende Orte. Sie wollten zusammen sein, waren neugierig und erwartungsvoll. Sie stritten sich, gingen auseinander und kamen wieder zusammen. Sie balgten sich, lachten, weinten und trösteten sich gegenseitig. Während dieses einen intensiven Tages waren sie so heftigen Gefühlsregungen ausgesetzt, dass sie die folgenden Wochen ganz erschöpft waren und oft hohes Fieber bekamen.
    Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, in einem waren die Erwachsenen sich einig: ein Treffen pro Jahr genügte.

 
    5  Daniel betrat eine Halle, die eher der Lobby eines eleganten Hotels glich als der Rezeption eines Sanatoriums.
    Eine junge Frau in einem hellblauen, gut geschnittenen Kostüm und Schuhen mit niedrigen Absätzen empfing ihn. Ihre Kleidung, die aufrechte Haltung und das Lächeln ließen an eine Stewardess denken. Und genauso stellte sie sich auch vor, als »Hostess«.
    Sie schien sofort zu wissen, wer Daniel war und wen er besuchen wollte. Sie bat ihn, seinen Namen in ein großes Buch zu schreiben, und führte ihn dann zu einer Sitzgruppe neben einem prachtvollen offenen Kamin mit Jugendstilornamenten. Über dem Kamin hingen zwei alte überkreuzte Skier, daneben zwei ausgestopfte Tierköpfe: ein Steinbock mit riesigen, geriffelten Hörnern und Bart, und ein Fuchs mit hochgezogener Oberlippe über den scharfen Zähnen.
    »Ihr Bruder kommt sofort, ich werde ihm mitteilen, dass Sie da sind. Mein Kollege trägt Ihr Gepäck ins Gästezimmer.«
    Daniel wollte sich gerade setzen, als ein blonder Mann in

Weitere Kostenlose Bücher