Himmelstal
der fallende Schnee umgab sie wie wogende Spitzengardinen. Die Berge waren kaum zu sehen, im Auto war es dunkel.
»Wenn es so weitergeht, ist die Straße bald wieder zugeschneit, und wir müssen zur Klinik zurück«, murmelte er.
»Keine Sorge. Der Schneepflug fährt die ganze Zeit«, sagte Corinne.
Aber es war wirklich viel Schnee auf der Straße, das Auto konnte nur schleichen.
Sie kamen am Aussätzigenfriedhof vorbei. Die aufgebrochene Öffnung des Grabmals lag wie ein leeres, dunkles und beängstigendes Loch vor ihnen, ein Tor zur Unterwelt, was es ja auch war. Weiter oben am Hang sahen sie die Rettungsmannschaften, die in den eingestürzten Gängen immer noch nach Menschen suchten. Unwillkürlich drückte er Corinnes Hand, sie gab ihm einen Kuss, der nach Zimt und Glühwein schmeckte.
Langsam kamen sie durch das Tal voran. Der Schnee hatte die Landschaft bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es war fast nicht zu glauben, dass die schlafenden weißen Felder noch vor kurzem voll saftigem Gras gewesen waren.
Plötzlich fiel Daniel etwas ein.
»Damals, als wir im Gras lagen und du über Kinder ge
sprochen hast. Dass du in Himmelstal am meisten Kinder vermissen würdest. Als du geweint hast. War das alles gespielt?«
Corinne schaute in den weißen Dunst hinaus. In dem dunklen Auto waren ihre braunen Augen fast schwarz.
»Ich musste meine Rolle spielen«, sagte sie leise. »Wenn herausgekommen wäre, dass ich keine richtige Bewohnerin bin, hätte ich mich in Gefahr gebracht. Es gab Gerüchte über Spione, die für die Ärzte arbeiteten. Ich glaube nicht, dass man mich verdächtigte, aber Mattias wurde ja irgendwie enttarnt, und er musste teuer dafür bezahlen. Ich weiß nicht, was Keller mit ihm gemacht hat, aber er muss vor Angst fast wahnsinnig gewesen sein, sonst wäre er nicht in eine Schlinge gelaufen.«
Ein rasselndes Geräusch übertönte sie, und orangefarbenes Licht schien ins Auto. Von hinten näherte sich ein Schneepflug. Der Fahrer ihres Wagens fuhr an den Straßenrand und ließ den Schneepflug vorbei. Sie fuhren dicht hinter ihm weiter, das sich drehende Licht warf Farbsprengsel auf sie wie in einer Diskothek.
»Dein Weinen hat sehr echt geklungen«, sagte Daniel. »Du klangst richtig verzweifelt.«
»Ich bin Schauspielerin, Daniel.«
»Wie viel von dir war echt und wie viel war Schauspielerei?«
»Schwer zu sagen. Willst du es in Prozent wissen?«
»Und unsere Liebe? War das auch Schauspielerei?«
Sie waren an die westliche Kurve der Straße gekommen, die ellipsenförmig um das Tal herumlief. Hier ging eine Straße ab, wo ein Warnschild mit dem Text »Zone 2« rot blinkte. Vor ihnen fuhr der Schneepflug die Dorfstraße zur Klinik zurück.
»Mein Gott, nein«, sagte sie, »das darfst du nicht glauben.«
Der Fahrer hielt an der Kreuzung an. Der Scheibenwischer lief auf Hochtouren.
Eine Wache kam aus einem Betonhäuschen. Er hielt mit den Händen den Uniformkragen zusammen und duckte sich im wirbelnden Schnee. Er warf einen Blick in den Wagen und ging zum Häuschen zurück. Eine Sekunde später leuchtete das Warnschild grün, und sie bogen ab. Corinne saß aufrecht und starr da und schaute durch die Windschutzscheibe.
Die Alpenwelt lag vor ihnen. Als Daniel sich duckte und aus dem Fenster nach oben schaute, sah er ein letztes Mal die vom Schnee bedeckten mächtigen Gipfel. Keiner von beiden sagte etwas.
Kurz darauf kamen sie zu einem weiteren Warnschild, das von Rot auf Grün sprang, als sie näher kamen. Eine Schranke glitt nach oben, der Schnee darauf rutschte auf den Boden. Langsam rollten sie hindurch, dann senkte sich die Schranke wieder hinter ihnen.
Sie waren heraus aus Himmelstal.
Corinne lehnte ihren Kopf an seine Schulter, das Auto fuhr weiter auf der sich windenden Straße, klein wie ein Spielzeug in der gewaltigen Landschaft.
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