Himmelstal
wenn er das Erstrebte erreicht hatte, verlor er plötzlich das Interesse an der ganzen Sache und verschwand einfach, während verzweifelte Mitarbeiter und Kunden versuchten, ihn auf ausgeschalteten Telefonen und in verwaisten Büros zu erreichen.
Mehr als einmal musste der schwer geprüfte Vater der Brüder einspringen und Max aus irgendeiner Klemme helfen. Vielleicht waren die Turbulenzen, die sein unberechenbarer Sohn ihm bereitete, schuld daran, dass er eines Morgens im Badezimmer einen Herzinfarkt erlitt und kurz darauf starb.
Bei einer psychiatrischen Untersuchung im Rahmen eines Gerichtsprozesses wurde festgestellt, dass Max an einer bipolaren Störung litt. Die Diagnose erklärte das rätselhafte Chaos, in dem Max sich offenbar ständig befand, seine waghalsigen Geschäfte, sein selbstzerstörerisches Verhalten und seine Unfähigkeit zu einer längeren Beziehung mit einer Frau.
Hin und wieder telefonierte Daniel mit seinem Bruder. Max rief oft zu den merkwürdigsten Tageszeiten an und klang immer ein wenig betrunken.
Als ihre Mutter starb, unternahm Daniel große Anstrengungen, ihn zu finden, aber es gelang ihm nicht, und das Begräbnis fand ohne Max statt. Irgendwie musste er dennoch davon erfahren haben, denn ein paar Monate später rief er an und fragte, wo die Mutter begraben sei, er wolle Blumen aufs Grab bringen. Daniel hatte vorgeschlagen, dass sie sich treffen und zusammen hinfahren könnten. Max versprach, sich zu melden, sobald er nach Schweden kam, aber das tat er nicht.
Die Glasscheibe glitt zur Seite. Der Fahrer drehte sich um und sagte:
»Nach ein paar Kilometern kommt ein Gasthaus. Wollen Sie eine Pause machen und etwas essen?«
»Essen möchte ich nicht, aber gerne eine Tasse Kaffee trinken«, antwortete Daniel.
Die Glasscheibe glitt wieder zu. Kurz darauf hielten sie an einem kleinen Gasthaus und tranken einen Espresso an der Bar. Sie sprachen nicht miteinander, und Daniel war dankbar für die Schlagermusik, die aus den Lautsprechern dröhnte.
»Sind Sie schon einmal in Himmelstal gewesen?«, fragte der Fahrer schließlich.
»Nein, noch nie. Ich möchte meinen Bruder besuchen.«
Der Fahrer nickte, als wisse er Bescheid.
»Fahren Sie regelmäßig dorthin?«, fragte Daniel vorsichtig.
»Hin und wieder. In den neunziger Jahren, als es eine Klinik für plastische Chirurgie war, fuhr ich häufiger. Mein Gott, da musste man Leute fahren, die aussahen wie Mumien. Nicht alle konnten es sich leisten, in der Klinik zu
bleiben, bis die Operationswunden ausgeheilt waren. Ich erinnere mich vor allem an eine Frau, von der man nur die Augen zwischen den Verbänden sah. Und was für Augen! Geschwollen, verweint, unendlich traurig. Sie hatte solche Schmerzen, dass sie die ganze Zeit weinte. Als wir hier Rast machten – ich mache immer hier Rast, das Gasthaus liegt genau auf dem halben Weg nach Zürich –, blieb sie im Auto sitzen, ich brachte ihr Orangensaft und einen Trinkhalm, sie saß auf dem Rücksitz und schlürfte den Saft. Ihr Mann hatte eine junge Geliebte, sie hatte sich liften lassen, um ihn zurückzugewinnen. Meine Güte. ›Alles wird gut. Sie werden schön sein wie der Tag‹, sagte ich zu ihr und hielt ihr die Hand. Ja, meine Güte.«
»Und jetzt? Was ist das jetzt für ein Ort?«, fragte Daniel. Der Fahrer ließ die Espressotasse in der Luft schweben und schaute Daniel kurz an.
»Hat Ihr Bruder Ihnen das nicht erzählt?«
»Nicht genau. Irgendeine Reha-Klinik.«
»Ja, genau.« Der Fahrer nickte eifrig und stellte die Tasse auf den Unterteller. »Sollen wir weiterfahren?«
Kaum waren sie wieder losgefahren, schlief Daniel ein, und als er die Augen wieder aufschlug, befanden sie sich in einem Tal mit grünen Wiesen, die von der Abendsonne beschienen wurden. Er hatte noch nie eine so intensive grüne Farbe in der Natur gesehen. Sie wirkte künstlich, wie mit chemischen Zusätzen versetzt. Das lag vielleicht am Licht.
Das Tal wurde schmaler, und die Landschaft veränderte sich. Die rechte Straßenseite wurde von einer fast senkrechten Felswand begrenzt, die die Sonne verdeckte. Es wurde dunkler im Auto.
Plötzlich bremste der Fahrer. Ein Mann in einem kurzärmeligen Uniformhemd und Schirmmütze versperrte ih
nen den Weg. Hinter ihm war eine heruntergelassene Schranke zu sehen. Ein bisschen weiter weg stand ein Transporter, und von dort näherte sich ein weiterer uniformierter Mann.
Der Fahrer ließ seine Scheibe herab und wechselte ein paar Worte mit dem Mann, während
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