Himmelstal
hatte, Psychologie und Pädagogik zu studieren, und gerade an ihrer Dissertation arbeitete. Die Kinderärztin kannte sie als Studentin, ihre Begabung und ihr Engagement hatten sie beeindruckt. Sie wohnte in Uppsala, aber wenn die Familie ihr eine Unterkunft besorgte, würde sie für den Sommer nach Göteborg ziehen und sich um Max kümmern.
Wenige Tage nach diesem Gespräch bezog Anna Rupke das Gästezimmer der Familie. Für den Vater war sie eine große Hilfe. Der jungen Frau schien das Kindergeschrei nichts auszumachen, sie las in aller Ruhe einen Forschungsbericht, während Max auf dem Boden saß und brüllte, dass die Wände wackelten. Ab und zu kam der Vater ins Kinderzimmer geschlichen und fragte, ob das wirklich normal sei. Vielleicht war der Junge ernstlich krank? Anna schüttelte mit einem wissenden Lächeln den Kopf.
Aber er musste doch hungrig sein? Er hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ohne den Blick zu heben, deutete Anna auf einen Keks, der ein paar Meter von dem Jungen entfernt auf einem Hocker lag. Max liebte diese Kekse. Der Vater widerstand dem Impuls, dem Jungen den Keks zu geben. Er ging zurück in sein Arbeitszimmer im ersten Stock, verfolgt vom Geschrei des Jungen. Irgend
wann wurde es still. Er lief hinunter, weil er fürchtete, der Junge sei vor Erschöpfung oder Hunger zusammengebrochen.
Als er ins Kinderzimmer kam, sah er, wie sein Sohn sich halb rutschend, halb krabbelnd auf den Hocker zu bewegte, seinen konzentrierten und wütenden Blick auf den Keks gerichtet. Max erreichte den Hocker, und mit einer letzten Anstrengung zog er sich hoch und nahm sich den Keks. Er biss ein großes Stück ab, drehte sich mit vollem Mund um und lächelte triumphierend und so breit, dass die Hälfte wieder aus dem Mund fiel.
Anna Rupke warf dem Vater einen vielsagenden Blick zu und vertiefte sich dann wieder in ihre Lektüre.
Die folgende Woche war sehr intensiv. Mit Hilfe von listig verteilten Keksen durchlief Max in Rekordzeit die Krabbel-, Steh- und Laufphase.
In der folgenden Woche brachte Anna ihm das Sprechen bei. Zu Beginn kommunizierte Max wie gewohnt, er zeigte auf etwas und schrie. Aber statt aufzuspringen und die gewünschten Dinge zu holen, blieb Anna ruhig sitzen und las weiter ihr Buch. Erst wenn er das Ding beim Namen nannte, wurde er belohnt. Max verfügte nämlich über einen großen passiven Wortschatz und verstand fast erschreckend viel von dem, was man ihm sagte. Es war ihm bisher nur nicht in den Sinn gekommen, dass er selbst reden könnte.
Als der Sommer vorbei war, sollten die beiden Brüder wieder vereint werden.
Sie schienen sich nicht mehr zu erkennen.
Daniel benahm sich wie jedem fremden Kind gegenüber, schüchtern und abwartend.
Max schien seinen Bruder als Eindringling zu empfinden und verhielt sich aggressiv, wenn Daniel Spielsachen
nahm, die er als sein privates Eigentum betrachtete. (Eine nicht sehr überraschende Reaktion, wenn man bedenkt, dass sein erstes Wort »mein« war und sein erstes Zweisilbenwort »haben!«.)
Wenn die Kinder aneinandergerieten, teilte die Familie sich sogleich in zwei Lager, und beide verteidigten »ihr« Kind. Auf der einen Seite die Mutter, die Großeltern und Daniel. Auf der anderen Seite der Vater, Anna Rupke und Max. Die Mutter fand, dass Anna ihren kleinen Daniel schlecht behandelte. Der Vater und Anna bewerteten das aggressive Benehmen von Max positiv und sahen es als Ausdruck der Befreiung vom Bruder.
Nach der missglückten Wiedervereinigung wurden die Kinder nach Rücksprache mit der Kinderärztin wieder getrennt.
Anna Rupke wollte nun eigentlich die Arbeit an ihrer Dissertation wieder aufnehmen, aber sie beschloss, weiter als Kindermädchen für Max zu arbeiten. Sie bezeichnete sich allerdings als Pädagogin. Der Vater des Jungen war ihr zutiefst dankbar, er war sich bewusst, dass sie ihm zuliebe auf eine Karriere verzichtete. Aber Anna versicherte, dass Max ein so interessantes Kind sei und daher eher von Nutzen für ihre Forschungsarbeit.
Die Mutter nahm Daniel wieder mit zu ihren Eltern nach Uppsala, und so lebten die Eltern weiterhin getrennt, jeder mit seinem Zwilling. Sie verständigten sich täglich per Telefon über die Fortschritte der Jungen.
Zu Weihnachten sollte die Familie wieder zusammengeführt werden. Aber der Riss war jetzt so tief, dass er nicht mehr gekittet werden konnte. Während der langen Trennung hatte der Vater nämlich ein Verhältnis mit dem Kindermädchen seines Sohns begonnen.
Er
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