Himmelstal
uralte Haus mit den knarrenden Holzfußböden. Sie waren weit durch Länder und Zeiten gereist und dann ganz kurz in Daniels kleinem Mund gelandet, wie ein Schmetterling in einem Blütenkelch. Und sie würden ihre Reise fortsetzen, wenn es ihn schon lange nicht mehr gab.
Die Begeisterung und Achtung vor der Sprache hatte er beibehalten. Auf dem Gymnasium hatte er den halbklassischen Zweig gewählt und dann Deutsch und Französisch studiert. Nach dem Studium arbeitete er als Dolmetscher am Europaparlament in Brüssel und Straßburg.
Es war stimulierend und aufregend, die Ansichten eines anderen Menschen in eine andere Sprache zu übertragen, Ansichten, die den eigenen oft total widersprachen. Wenn der zu übersetzende Vortrag gefühlsmäßig stark aufgeladen war, genügte die gesprochene Sprache nicht, dann musste er die Botschaft des Gesagten auch mit Gestik und Mimik unterstreichen. Er fühlte sich dann manchmal wie eine Kasperlepuppe, die ganz vom Wesen des anderen erfüllt war. Als ob seine eigene Seele davonschweben wür
de. Er hörte, wie seine Stimme sich veränderte und er Gesichtsmuskeln ins Spiel brachte, die er sonst nie einsetzte. »Aha«, dachte er dann fasziniert, »so fühlt es sich also an, ›du‹ zu sein!«
Am Schluss einer besonders lebhaften Diskussion gab es manchmal eine kleine Kluft, bis er wieder bei sich selbst ankam. Eine schwindelerregende Sekunde lang hatte er das Gefühl, überhaupt niemand zu sein.
Es kam häufig vor, dass man zwischen dem Gedolmetschten und ihm keinen Unterschied machte. Gesprächspartner der Gegenseite behandelten ihn dann kurz und abweisend, wie einen weiteren Gegner.
Das Umgekehrte kam allerdings auch vor: dass die Sympathie für eine gedolmetschte Person auf ihn abfärbte. Und so, vermutete er, hatte er das Interesse der Frau geweckt, die er später heiraten sollte.
Emma war Juristin, spezialisiert auf internationales Umweltrecht. Daniel sollte ein Gespräch zwischen ihr und einem deutschen Experten für Wasserrecht dolmetschen, einem eleganten, älteren Herrn mit einer starken erotischen Ausstrahlung. Während des Dolmetschens erlebte Daniel eine starke Verschmelzung mit dem Deutschen und wusste auf beinahe gespenstische Weise schon vorher, was dieser sagen würde.
Auch Emma schien sie als eine Person erlebt zu haben, denn als der Mann gegangen war, diskutierte sie weiter mit Daniel über Wasserrecht, als wäre er die ganze Zeit ihr Gesprächspartner gewesen und nicht dessen nachsprechender Schatten. Er musste sie immer wieder daran erinnern, dass er sich in Wasserfragen nicht auskannte. Aber das Gespräch war in Gang gekommen. Sie gingen zu anderen Themen über, setzten den Abend in einem kleinen italienischen Restaurant fort und gingen schließlich zusammen und ziemlich betrunken in ihr Ho
telzimmer. Während sie sich liebten, nannte sie ihn ein paar Mal scherzhaft »mein Herr«, was ihn ein bisschen störte.
Auch nach der Heirat hatte Daniel sich nicht ganz von dem Gefühl freimachen können, dass seine Frau ihn mit einem anderen verwechselte und dass sie immer wieder enttäuscht war, wenn sie ihren Irrtum bemerkte.
Dann fand er heraus, dass sie ihn mit einem Biologen aus München betrog, und sie ließen sich scheiden.
Im Jahr nach der Scheidung geriet Daniel in eine seelische Krise. Er wusste nicht recht, warum. Über die Trennung war er erstaunlich schnell hinweggekommen und fand im Nachhinein, dass es eine kluge Entscheidung war. In seinem Beruf war er geschätzt, er verdiente gut und wohnte in einer modernen Wohnung mitten in Brüssel. Er hatte kurze Beziehungen mit Frauen, die sich auf ihre Karriere konzentrierten und an einer festen Beziehung ebenso wenig interessiert waren wie er. Eigentlich fehlte ihm nichts. Bis er eines Tages plötzlich einsah, dass sein Leben völlig leer und sinnlos war. Seine Beziehungen waren flüchtig wie Gas, und die Worte, die er bei seiner Arbeit aussprach, gehörten einem anderen. Wer war er eigentlich? Ja, eine Handpuppe, die ein paar Stunden pro Tag buckelte und dann in eine Ecke geworfen wurde. Er lebte nur, wenn er dolmetschte, und auch dieses Leben gehörte nicht ihm, es war geliehen.
Die Einsicht überfiel Daniel eines Morgens, als er auf dem Weg zur Arbeit war und an einem Kiosk eine Zeitung kaufen wollte. Er blieb wie versteinert mit der Münze in der Hand stehen. Schaute auf die Münze, seine Hand, dann seinen Körper hinab. Der Zeitungsverkäufer fragte ihn, welche Zeitung er haben wolle, aber er konnte
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