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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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kurzärmeligem Stewardhemd auftauchte und mit seinem Koffer verschwand.
    »Aber ich möchte nicht hierbleiben. Ich will gleich weiter in ein Hotel«, protestierte Daniel. »Kann mein Koffer nicht ein paar Stunden hierbleiben?«
    Der Mann blieb stehen und drehte sich um.
    »In welches Hotel wollen Sie?«
    »Ich weiß nicht so recht. In das nächstgelegene. Können Sie mir eines empfehlen?«
    Die Frau und der Mann schauten sich besorgt an.
    »Da hätten Sie noch einen weiten Weg«, sagte die Frau. »Und hier oben in den Bergen gibt es fast nur Kurhotels.
Die haben ihre Stammgäste und sind Monate im Voraus ausgebucht.«
    »Da unten ist doch ein Dorf. Gibt es da niemanden, der Zimmer vermietet?«, fragte Daniel.
    »Wir raten unseren Besuchern, nicht im Dorf zu logieren«, sagte die Frau. »Hat Ihnen jemand eine Unterkunft angeboten?«
    Sie lächelte immer noch, aber ihr Blick war eine Idee schärfer.
    »Nein«, sagte Daniel. »Das war nur so ein Gedanke.«
    Der Mann räusperte sich und sagte ruhig:
    »Sollte Ihnen jemand ein Zimmer im Dorf anbieten, dann lehnen Sie bitte ab. Freundlich, aber bestimmt. Ich möchte Ihnen vorschlagen, in einem unserer Gästezimmer zu übernachten. Die meisten Besucher machen das. Sie können mehrere Tage bleiben, wir haben genug freie Zimmer.«
    »Das hatte ich nicht geplant.«
    »Das kostet Sie nichts. Die meisten Angehörigen kommen von weit her, und deshalb bieten wir ihnen an, ein paar Tage hier zu bleiben. Damit man ›landen‹ und auf normale Art miteinander umgehen kann. Waren Sie schon einmal in Himmelstal?«
    »Nein.«
    Für den Mann, der während des ganzen Gesprächs seinen Koffer in der Hand gehabt hatte, schien die Sache entschieden.
    »Möchten Sie vielleicht Ihr Zimmer sehen und sich ein wenig frisch machen? Wir nehmen den Lift da drüben«, sagte er und ging über den dicken Teppich voraus.
    Daniel folgte ihm. Vielleicht, dachte er im Lift nach oben, war es doch keine schlechte Idee, eine Nacht hier- zubleiben. Es war schon spät, und er hatte eigentlich keine Lust, noch ein Zimmer zu suchen.
    Das Gästezimmer war klein, aber hell und angenehm eingerichtet. Auf einem weiß gestrichenen Tisch stand eine Vase mit frischen Blumen, und die Aussicht über das Tal und die entfernten Berggipfel entsprach genau dem, was ein Tourist in den Alpen erwartete.
    Himmelstal. Ein schöner Name für einen schönen Ort, dachte Daniel.
    Er wusch sich die Hände und zog ein frisches Hemd an. Dann legte er sich auf das Bett und ruhte sich ein paar Minuten aus. Es war ein modernes, sehr bequemes Bett, das merkte er gleich. Am liebsten wäre er liegen geblieben und hätte ein paar Stunden geschlafen, bevor er seinen Bruder traf. Aber die Hostess hatte Max schon von seinem Kommen unterrichtet. Schlafen konnte er später.
    Im Lift zur Eingangshalle wusste er plötzlich, was so eigenartig an dem Gespräch da unten gewesen war. Er hatte es die ganze Zeit gespürt, als er mit dem Mann und der Hostess sprach, aber nicht wahrgenommen: Sie hatten verschiedene Sprachen gesprochen. Er hatte Deutsch gesprochen, weil er davon ausging, dass dies ihre Muttersprache war, und sie hatten ihm auf Englisch geantwortet.
    Er war es so gewohnt, zwischen verschiedenen Sprachen zu wechseln, dass es ihm gar nicht aufgefallen war. Es war nur so ein Gefühl der Disharmonie gewesen, irgendwie holprig.
     
    Daniel hatte sich schon immer für Sprachen interessiert. Als Kind hatte er viel Zeit bei seinem Großvater verbracht, der Sprachwissenschaftler war. Fast täglich aßen er und seine Mutter bei den Großeltern. Wenn die Mutter und die Großmutter zusammen in der Küche den Abwasch machten, ging Daniel mit dem Großvater in dessen großes, nach Tabak riechendes Arbeitszimmer.
    Daniel saß am liebsten auf dem Boden und blätterte in Büchern mit Bildern von ägyptischen Grabfresken, griechischen Skulpturen und mittelalterlichen Stichen, dabei erzählte der Großvater von Sprachen, lebendigen Sprachen und toten Sprachen. Wie Sprachen miteinander verwandt sind, genau wie Menschen, und wie man den Ursprung der Wörter bis weit in die Vergangenheit verfolgen kann. Das fand Daniel besonders faszinierend. Er fragte den Großvater ständig, woher die Wörter stammten. Manchmal bekam er sofort eine Antwort, manchmal musste der Großvater in einem Buch auf seinem Schreibtisch nachschlagen.
    Erstaunt stellte Daniel fest, dass die Wörter, die er so selbstverständlich verwendete, viel älter waren als er, als der Großvater, als das

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