Himmelstal
wir ihn an der Angel …«, sagte der Arzt, aber noch ehe er seinen Satz beenden konnte, glitt der Fang ganz von selbst auf einer Rutschbahn aus Blut und Schleim dem Arzt in den Schoß.
Da war es fünf vor zwölf, und die Brüder konnten nun doch gemeinsam Geburtstag feiern.
Fünf vor zwölf. Wie sollte man das wohl deuten?
Dass Max auf seiner Einzigartigkeit bestand und um keinen Preis am gleichen Tag wie sein Bruder geboren werden wollte, um sich dann in letzter Minute doch umzube
sinnen, weil er die Gemeinsamkeit der Individualität vorzog?
Oder war es eher ein Balancieren auf dem schmalen Grat, um Aufmerksamkeit zu wecken, wenn er mal wieder spät – aber nicht zu spät – zu einem Termin kam, Zug oder Flugzeug gerade noch erreichte und seine nervösen Freunde mit einem Lächeln fragte, was sie denn von einem, der fünf vor zwölf geboren worden war, erwarteten.
Die erste Zeit verbrachten die Jungen im Haus der Eltern in Göteborg. Der Vater war ein erfolgreicher Unternehmer in der Elektronikbranche, die Mutter hatte bis zur Geburt der Zwillinge etwas planlos diverse Fächer studiert.
Am Anfang waren die beiden Zwillinge ziemlich verschieden.
Daniel aß tüchtig, weinte selten und entwickelte sich entsprechend der Gewichtskurve.
Max war ein Spätentwickler, und als er im Alter von zwanzig Monaten immer noch kein Wort von sich gab und keinerlei Ansatz zeigte, sich fortzubewegen, machte seine Mutter sich Sorgen. Sie brachte die beiden Jungen zu einer bekannten Kinderärztin in ihrer Heimatstadt Uppsala. Nachdem die Ärztin die beiden Jungen zusammen beobachtet hatte, fand sie eine einfache Erklärung. Sobald Max den Blick auf eines der netten Spielsachen richtete, die die Ärztin im Raum verteilt hatte, machte Daniel sich auf seinen rundlichen Beinchen auf den Weg und brachte es ihm.
»Man sieht es ganz deutlich«, sagte sie zur Mutter der Zwillinge und deutete mit einem Stift auf die Jungen. »Max braucht gar nicht zu gehen, Daniel holt ihm alles. Spricht er auch für seinen Bruder?«
Die Mutter nickte und berichtete, dass Daniel auf fast gespenstische Weise zu wissen schien, was der Bruder
wollte, und mit seinem kleinen, aber geschickt genutzten Wortschatz vermittelte. Er konnte sagen, ob Max Durst hatte, ob ihm heiß war oder wenn er die Windel gewechselt haben wollte.
Die Kinderärztin war besorgt über das symbiotische Verhältnis der Brüder und schlug vor, sie für eine Zeitlang zu trennen.
»Max hat keine natürliche Motivation, zu laufen oder zu sprechen, solange sein Bruder alles für ihn tut«, erklärte sie.
Die Mutter der Jungen wollte zunächst einer Trennung nicht zustimmen, sie würde für beide schmerzlich sein. Sie waren ja so eng miteinander verbunden. Aber sie hatte großes Vertrauen in die Ärztin, einer Autorität in Pädiatrie und Kinderpsychologie, und so willigte sie nach langen Diskussionen und Gesprächen mit dem Vater der Kinder, der das vernünftig fand, ein. Es wurde beschlossen, die Kinder den Sommer über zu trennen, da hatte der Vater Ferien und konnte sich zu Hause in Göteborg um Max kümmern, die Mutter würde Daniel mit zu ihren Eltern nach Uppsala nehmen. Die Ärztin sagte auch, dass Kinder sich im Sommer am schnellsten entwickeln und am offensten für Veränderungen sind.
In den ersten Tagen weinten beide Jungen verzweifelt. In der zweiten Woche wurde Daniel ruhiger. Er schien die Vorteile eines Einzelkinds zu erkennen und genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit von Mutter und Großeltern.
Max hingegen brüllte weiter. Tag und Nacht. Der Vater, unerfahren in der Kinderbetreuung, klang in seinen Telefongesprächen nach Uppsala immer verzweifelter. Die Mutter schlug vor, das Experiment abzubrechen, und rief die Kinderärztin an, die sie jedoch zum Weitermachen überredete. Aber der Vater brauchte Unterstützung durch ein Kindermädchen.
Mitten im Sommer ein Kindermädchen zu finden war nicht so einfach. Und die Mutter wollte ihren Sohn natürlich nicht irgendjemandem anvertrauen. Eine schlampige, unreife Fünfzehnjährige, die unbedingt einen Sommerjob suchte, kam hier nicht in Frage.
»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte die Kinderärztin, als die Mutter ihr das Problem schilderte, und ein paar Tage später rief sie an und empfahl eine gewisse Anna Rupke. Sie war 32, ausgebildete Kinderkrankenschwester und spezialisiert auf Kinder mit psychischen Störungen. Ihr Interesse für das Seelenleben von Kindern war schnell gewachsen, so dass sie angefangen
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