Himmelstal
er noch so lange in Himmelstal sein würde, machte ihn schaudern. Sie lachte und streichelte ihm beruhigend den Arm.
»Immer mit der Ruhe, Lämmchen. Bis dahin hat jemand anderes die Holzlieferungen übernommen. Tom wird so bald nicht zurückkommen.«
»Wo ist er jetzt?«
»In den Katakomben, nehme ich an.«
»Die Katakomben, was ist das?«
»Weiß ich auch nicht genau. Ein schrecklicher Ort. Unter der Erde. Ungefähr wie die Hölle. Aber die Hölle gibt es ja nicht. Die Katakomben vielleicht auch nicht. Das Problem mit solchen Orten ist, alle reden darüber, aber niemand kommt von dort zurück und erzählt, wie es war.«
Er erinnerte sich, dass Karl Fischer etwas von einem »Keller« gesagt hatte. War das damit gemeint?
Er schaute durch den Vorhang, ob die Nachtpatrouille kam. Samantha klopfte hinter ihm auf den Tisch: Knackediknackknack. Knack, knack. Er drehte sich abrupt um, und sie lachte.
»Die brauchen noch eine Weile. Wir schaffen es.«
Sie stellte sich dicht vor ihn, legte die gewölbte Hand über seinen Schritt und drückte zu, dabei blies sie langsam den Rauch ihrer Zigarette aus den Mundwinkeln. Ihre Pupillen sahen aus, als seien sie mit einer schwarzen, zähen Flüssigkeit überzogen. Angeekelt stieß er sie weg. Es war ein leichter Schubs, aber sie wankte, als würde sie auf einem Seil balancieren.
»Was ist denn? Wartest du vielleicht auf eine andere? Ein Matrosenmädchen? Oder ein Hirtenmädchen? Fährst du auf so was ab?«
Eigenartig. Die Frauen waren in der Minderheit im Tal, und die einzigen attraktiven Exemplare, die er bisher getroffen hatte, schienen sich um ihn zu schlagen. Er brauchte noch nicht mal seine Hütte zu verlassen, sie erzwangen sich den Zugang. Und sie wussten erstaunlich gut über einander Bescheid.
»Weißt du eigentlich, wer sie ist? Weißt du, was sie gemacht hat?«
»Wer?«
»Das Matrosenmädchen. Das Hirtenmädchen. Klingelingeling.« Sie ahmte das Läuten einer Kuhglocke nach. »Hat sie dir erzählt, was sie gemacht hat, bevor sie hierherkam? Weißt du das, Lämmchen?«
»Nenn mich nicht so. Ich heiße Max.«
Sie schüttelte langsam den Kopf und piekste ihn mit einem langen roten Nagel ins Kinn.
»Du hast mir doch schon alles erzählt, hast du das schon vergessen? Du bist sein Double. Hab keine Angst, Lämmchen. Es ist ein wunderbares Geheimnis, und bei mir ist es gut aufgehoben.«
Sie lächelte, und ihr Blick zerfloss zu einer dunklen Pfütze.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst, Samantha.«
»Willst du nicht wissen, was sie gemacht hat, das kleine Hirtenmädchen?«
Endlich klopfte es an die Tür, der gleiche Wirbel wie eben, das gleiche fröhliche Rufen. Das Schloss wurde geöffnet, und die kleine dunkelhaarige Hostess stand auf der Schwelle.
»Wie geht es dir, Max? Hattest du einen guten Tag? Samantha, beeil dich. Wir sind in ein paar Minuten bei dir.«
Samantha warf den Kopf in den Nacken und stieß mit großer Präzision ein paar Rauchringe aus, dann schob sie die Hostess beiseite und verschwand in der Nacht.
Noch lange nachdem sie und die Nachtpatrouille verschwunden waren, hing der Rauch unter den Deckenbalken, zäh und drückend, wie der Dampf aus einem Moor. Daniel hätte so gerne das Fenster zum Lüften geöffnet, aber er traute sich nicht.
Er machte sich Vorwürfe, dass er sich so leicht hatte übertölpeln lassen und Samantha die Tür aufgemacht hatte. Und er hätte schneller reagieren müssen, als er sah,
dass sie es war. Sie wegschubsen und die Tür zuschlagen. Er musste schneller, geschmeidiger und stärker werden.
Er holte das Handy und rief Corinne an.
38 Es war früh am Vormittag, der kleine Marktplatz lag noch im Schatten des Berges. Das Glöckchen an der Tür der Bäckerei klingelte, wenn die Leute mit dem frisch gebackenen Brot herauskamen, auf einem Balkon stand ein Mann im Unterhemd und goss die Blumen in den Kästen. Es schien sich um ein ganz normales Dorf zu handeln, mit gepflegten Häusern und strebsamen Bewohnern, die ihren Geschäften nachgingen.
Corinne saß auf dem Rand des Springbrunnens, die Kapuze ihrer Jacke hatte sie hochgeschlagen. Als sich ihre Blicke trafen, machte sie eine kleine Bewegung mit dem Kopf und ging los. Daniel folgte ihr durch die schmalen Gassen zu einem Haus, wo sie eine außen liegende Treppe hinaufstiegen. Unter dem Giebel traten sie durch eine Tür und standen in einem engen, dunklen Flur und dann vor einer weiteren Tür, die mit einem Code geöffnet werden musste.
»Deine Tür ist
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