Himmelstal
Das muss doch laut sein«, sagte er und zog die Handschuhe aus.
»Ich bin allein im Haus. Das Erdgeschoss benutzt der Ladenbesitzer als Lager. Und der erste Stock ist leer. Es ist angenehm, für sich zu sein. Aber: Wenn mir etwas zustößt, hört mich niemand, wenn ich schreie«, sagte sie lächelnd. »Willst du an die Hanteln oder soll ich?«
Daniel machte eine abwehrende Handbewegung.
»Ich glaube, mir reicht es für heute.«
»Die Dusche ist da drüben neben der Eingangstür«, sagte Corinne und legte sich auf die Bank unter die Hanteln.
Als er mit Corinnes Badehandtuch um die Hüften aus der Dusche kam, hatte sie einen Krug Rhabarbersaft mit Eiswürfeln hingestellt und einen Frotteebademantel angezogen. Während sie duschte, setzte er sich auf das Plüschsofa und schenkte sich Saft ein. Er sah sich in dem großen Zimmer um. Auf einem Stuhl lagen ihre verschwitzten Trainingskleider. Schnell fasste er in die rechte Tasche der Jogginghose und holte ihr Handy heraus. Er schaute zur Badezimmertür, dann öffnete er den Mitteilungseingang. Der war ganz leer. Ebenso der Mitteilungsausgang. Offenbar löschte sie immer alles sofort. Aber bei den gespeicherten Mitteilungen hatte er einen Treffer: eine einzige SMS von einem Absender, der als »M« gespeichert war. Er machte auf und las: Bin glücklich, wann immer ich dich sehe. Pass auf dich auf. Die Nachricht war am 21. Mai gesendet worden. Er sah sich nach einem Stift um, damit er die Nummer aufschreiben konnte, aber das Rauschen im Bad hatte aufgehört, und er steckte das Handy in die Tasche zurück.
Corinne kam heraus. Sie hielt mit der einen Hand den Bademantel zusammen und drückte mit der anderen das Wasser aus den Haaren.
»Bin ich der Einzige in Himmelstal, der dir beim Training zugesehen hat?«, fragte Daniel.
»Ja«, sagte sie, setzte sich in den Sessel und fügte hinzu: »Außer Max natürlich.«
Sie schenkte sich ein Glas Rhabarbersaft ein und trank gierig.
»Habt ihr zusammen trainiert?«
Corinne lachte.
»Kennst du deinen Bruder so schlecht? Er hasst es, zu schwitzen. Alles, was anstrengender war als das Fliegenfischen, kam für ihn nicht in Frage.«
Daniel zögerte einen Moment.
»Es geht mich eigentlich nichts an. Aber was hattet ihr für eine Beziehung?«
»Max und ich? Ich weiß nicht. Es wäre falsch zu sagen, dass wir Freunde waren. Man findet in Himmelstal keine Freunde. Aber wir trafen uns. Wir konnten miteinander reden. Es begann in der Theatergruppe, wo ich Regie geführt habe. Wir haben Der gute Mensch von Sezuan gespielt. Es handelte sich um eine gekürzte Version, eine Bearbeitung, an der ich beteiligt war, ehe ich herkam. Max spielte den Flieger. Er war begabt. Er hat sofort verstanden, was ich wollte. Er wäre ein guter Schauspieler geworden, wenn er es gewollt hätte. Die Aufführung war ein gro
ßer Erfolg, und danach kam er, wenn ich arbeitete, öfter in Hannelores Bierstube und plauderte mit mir. Manchmal kam er danach mit zu mir nach Hause.«
Sie sah seinen Blick und sagte:
»Wir hatte keine sexuelle Beziehung. Wir waren beide nicht interessiert. Wir saßen hier und redeten, das war alles.«
»Wieso hast du ihn mitgenommen? Du hast doch selbst gesagt, dass du niemandem die Tür öffnest. Hast du ihm wirklich vertraut?«
Corinne dachte nach.
»Ich habe mich natürlich einer physischen Gefahr ausgesetzt. Aber es gibt eine andere Gefahr in Himmelstal. Die Gefahr, verrückt zu werden. Als Max ins Tal kam, wurde für mich diese Gefahr immer größer. Verrückt zu werden vor Misstrauen, Einsamkeit und Anonymität. Ich war es so leid, abends immer allein hier zu sitzen und die Reste meines alten Lebens anzustarren.«
Sie warf einen Blick auf die Theaterplakate und Masken an der Wand.
»Ich habe mich danach gesehnt, jemandem von mir zu erzählen, meine Gedanken mit einem anderen Menschen zu teilen. Nichts Tiefes oder Grundlegendes. Ich wollte nur, dass jemand ein bisschen etwas über mich weiß. Als wir Der gute Mensch probten und ich mich mit Max über das Stück unterhielt, erlebte ich genau das. Und ich wollte nicht, dass es aufhört. Ich habe mich also weiter mit ihm getroffen, und ich habe ihn hierher eingeladen, wo wir frei reden konnten, ohne dass die anderen Gäste der Bierstube uns zuhörten. Es war unterhaltsam und nett. Er brachte mich zum Lachen.«
Daniel spürte einen Stich Eifersucht.
»Wusstest du, dass er Frauen misshandelt hat?«
Corinne nickte.
»Gisela hatte mich gewarnt. Aber es war mir egal,
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