Himmelstal
sicherer als meine«, stellte Daniel fest.
»Weil ich eine Frau bin.«
Sie ließ ihn in einen großen dunklen Raum unter dem Dach eintreten, Wände und Decken waren aus ungehobeltem Holz, es gab nur wenige, winzige Fenster.
»Ja, so wohne ich also«, sagte Corinne und machte kleine Lampen und Lichterketten an.
Es war wirklich eine besondere Wohnung. An einigen Wänden hingen phantasievolle Masken, Marionetten und Theaterplakate. Der Bettüberwurf war aus einem indianischen Stoff, in der Mitte des Raums standen, wie auf einer Insel, Sitzmöbel aus rotem Plüsch. Ein Drittel der Dachwohnung bestand aus einem Fitnessraum mit Geräten und einem großen Wandspiegel.
Daniel blieb stehen und betrachtete die Masken an den Wänden.
»Mein altes Leben«, erklärte Corinne. »Und mein jetziges.«
Sie machte eine Handbewegung zu den Sportgeräten.
»Okay«, fuhr sie fort, ehe Daniel weitere Fragen stellen konnte. »Du hast also eingesehen, dass du trainieren musst. Wir fangen mit dem Aufwärmen an.«
Sie zog ihre Jacke aus. Darunter trug sie ein rotes Top. Sie holte ein Springseil hervor und begann zu hüpfen.
»Du kannst das Fahrrad nehmen.«
Daniel ging in einem Bogen um das schwingende Seil und setzte sich auf das Trainingsrad. Er musste tüchtig treten, bis er die Trägheit überwunden hatte und das Rad in Gang gekommen war. Vor ein paar Jahren hatte er noch regelmäßig trainiert, ging joggen und ins Sportstudio, aber mit der Depression hatte er alles aufgegeben und nie wieder damit angefangen.
»Was hast du so gemacht in den letzten Tagen?«, fragte Corinne.
»Ich habe ein paar Briefe geschrieben«, prustete er. »Kann man von hier aus Briefe verschicken?«
»Klar. Du gibst ein offenes Kuvert an der Rezeption ab. Bevor der Brief weggeschickt wird, liest ihn die Klinikleitung und prüft, ob er den Vorschriften entspricht.«
»Was für Vorschriften?«
»Der Brief darf natürlich keine Drohungen oder Beleidigungen enthalten. Man darf auch nicht allzu viel über Himmelstal berichten. Offiziell handelt es sich um eine ›psychiatrische Spezialklinik‹, ohne genauere Präzisierung, und dieses Bild müssen wir aufrechterhalten.«
Corinne ließ das Seil jetzt schneller kreisen, dann wurde sie wieder langsamer.
»Du darfst auch nicht schreiben an wen du willst. Der
Adressat wird überprüft und muss genehmigt werden. An wen hast du denn geschrieben?«
»Ans Einwohnermeldeamt und die Passbehörde in Schweden«, keuchte Daniel. »An die schwedische Botschaft in Bern. Ich möchte meine Identität bestätigt bekommen. Die genauen Adressen habe ich nicht, aber ich hoffe, dass mir jemand dabei helfen kann.«
Corinne unterbrach ihr Seilspringen und lachte laut.
»Diese Briefe werden Himmelstal niemals verlassen.«
»Und wie ist es mit ankommender Post?«, fragte Daniel. »Gibt es da auch Zensur?«
»Ja. Alles wird gelesen. Der Absender wird überprüft.«
»Eigenartig«, sagte Daniel.
Er hatte aufgehört zu treten und saß ruhig auf dem Trainingsrad.
»Wieso?«
»Max bekam einen Brief, ehe ich hierherkam. Der Inhalt war ausgesprochen bedrohlich.«
Dann erzählte er, was in dem Brief von der Mafia gestanden hatte.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Corinne.
»Nein, aber ich habe das Foto gesehen, das sie mitgeschickt haben. Eine misshandelte Frau.«
»Dieser Brief ist nicht auf dem offiziellen Weg hereingekommen, so viel ist sicher.«
»Wie ist er dann hereingekommen?«
»Ich weiß nicht. Aber es kommt viel nach Himmelstal herein, was nicht hereinkommen sollte«, sagte Corinne.
Sie hängte das Seil an die Wand.
»Drogen?«, fragte Daniel.
»Hat dir jemand etwas angeboten?«
»Ein Typ im Speisesaal hat Andeutungen in die Richtung gemacht. Und ich habe Leute gesehen, die offenbar was genommen hatten.«
»Samantha?«
Die Damen kontrollierten sich gegenseitig, dachte Daniel. Wer hatte Samantha bei ihm gesehen? Nur die Hostessen. Die es wiederum Gisela Obermann berichtet hatten? Die Corinne während der Therapiestunden davon unterrichtet hatte?
»Ich dachte, es wäre die Nachtpatrouille und schloss auf«, sagte er entschuldigend. »Sie war zugedröhnt. Ich habe sie gleich wieder rausgeworfen.«
Corinne schien zufrieden.
»Es gibt Drogen im Tal«, gab sie zu und umwickelte ihre Hand mit einer schwarzen Baumwollbinde. »Keine großen Mengen, aber genug, um eine Nachfrage aufrechtzuerhalten, und auch genug, um die Preise hoch zu halten. Ich nehme an, die verfügbare Menge ist genau berechnet, damit die
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