Himmelstal
sitzen, ohne zu lesen. Ich glaube, ich habe noch nie einen Gast mit einem Buch gesehen. Und du hast auch jetzt ein Buch auf dem Tisch liegen.« Sie nickte in Richtung Tisch. »Du hast gelesen, als ich anrief, nicht wahr? Es ist aus der Bibliothek, die hast du also schon gefunden. Gut. Mach weiter so. Ich habe einen anderen Ort.«
»Welchen?«
»Die Kirche.«
»Bist du gläubig?«
Sie machte eine Handbewegung.
»Nenn es, wie du willst. Jeden Abend um sechs ist Messe, und wenn ich nicht auftrete, gehe ich hin. Wir sind eine kleine Schar von Getreuen, die weit voneinander entfernt in den Bänken sitzen, dem Priester zuhören, Lieder singen und Kerzen anzünden.«
»Der Priester?«, sagte Daniel. »Ist das dieser Pater Dennis, der seine Betrachtungen über das Intranet von Himmelstal verbreitet?«
Corinne nickte.
»Er ist vielleicht kein theologisches Genie, aber wir haben keine Wahl. Ich gehe auch nicht seinetwegen hin. In der Kirche ist es richtig schön. Wenn du willst, nehme ich dich einmal mit.«
»Nein danke. Das ist nichts für mich.«
»Du kannst es dir ja überlegen. Und noch einmal, sei vorsichtig. Aber das bist du ja schon. Schließ zu. Mach nicht auf, wenn du keinen Besuch erwartest. Geh nicht nachts nach draußen. Halte dich nicht allein an einsamen Orten auf. Und erzähle niemandem, wer du bist. Wir müssen die Ärzte von deiner richtigen Identität überzeugen. Aber für die Bewohner von Himmelstal bist du Max.«
Sie stand auf und zog ihre Regenjacke an. Sie war mindestens drei Nummern zu groß.
»Hattest du Besuch von Samantha?«, fragte sie, als sie ihre Stiefel anzog.
»Hier? In der Hütte? Nein«, sagte Daniel.
Sie schaute ihn an und seufzte.
»Und du musst lernen, besser zu lügen, wenn du hier zurechtkommen willst. Du wirst rot wie eine Ampel.«
»Das ist lange her. Ich dachte, es war ein Traum«, murmelte er verlegen.
»Ich missgönne dir nichts, aber sei vorsichtig.«
Sie machte das Drehschloss auf, klappte die Kapuze hoch und drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
»Bis bald«, sagte sie und trat hinaus in den Regen.
36 Der nächste Tag war sonnig, und die schneebedeckten Gipfel glitzerten im Westen. Daniel hatte beschlossen, Corinnes Rat zu folgen, und im Speisesaal zu Mittag zu essen. Aufrecht und mit nach vorne gerichtetem Blick ging er den Hang hinunter und durch den Park, der nach dem Regen frisch duftete.
Vor dem Krankengebäude war wie immer um diese Zeit viel los. Die Menschen eilten durch den Park, allein oder in Gruppen. Zwei Hostessen waren unterwegs ins Dorf, die eine sprach aufgeregt in ihr Handy. Von den Ärzten sah er niemand. Er hatte, seit er entlassen worden war, nichts von ihnen gehört. Nicht von Doktor Fischer, nicht von Doktor Obermann noch sonst jemand.
Er schaute an dem großen Gebäude hoch und versuchte herauszufinden, wo sein Zimmer gewesen war. Der Konferenzraum lag in einem der oberen Stockwerke. Gisela Obermanns Zimmer war ganz oben. Die Krankenstation, in die er und Marko für die Blutabnahme eingesperrt worden waren, musste in einem der unteren Stockwerke liegen. Die Abteilung, in der seine Brandverletzungen behandelt worden waren, war wohl irgendwo in der Mitte.
Aber die Glasfassade glänzte so stark, dass er von seinem Standort aus weder Stockwerke noch Fenster erkennen konnte. Er sah nur ein Spiegelbild des Tals: Himmel, Tannen und die Felswand gegenüber.
Im Speisesaal suchte er sich einen Platz auf der Terrasse. Er hatte den Tisch sorgfältig ausgewählt, noch bevor er den Raum betrat und sich mit seinem Tablett in die Schlange stellte. Draußen saßen nur wenige Gäste, und er setzte sich in gebührendem Abstand zu ihnen.
Er hatte gerade zu essen begonnen, als sich jemand am Nebentisch niederließ. Daniel erkannte den Friseur des
Dorfes. Sein Hemd war weit aufgeknöpft, die Haare zu einem wilden, rotbraunen Schopf geföhnt, der die gefurchte Stirn nur teilweise bedeckte. Der Friseur probierte vorsichtig die Lasagne und seufzte vor Genuss.
»So muss eine Lasagne schmecken. Viel Käse. Es gibt keinen Grund, ins Restaurant zu gehen, um gut zu essen. Hier schmeckt es genauso gut, findest du nicht?«, sagte er zu Daniel.
»Ja. Unbedingt.«
Daniel beschloss, allem zuzustimmen oder zumindest nicht zu widersprechen.
Der Friseur trank einen Schluck Rotwein und schnalzte wie ein Eichhörnchen mit der Zunge. Daniel nahm eine Wolke von Rasierwasser wahr, als der Mann sich zu seinem Tisch herüberbeugte und ihm konspirativ über den Rand
Weitere Kostenlose Bücher