Himmelstiefe
entgegen und konzentrierte mich auf die Elemente. Aber nichts geschah. Der Wind blies weiter mit über hundert Stundenkilometern. Die erste Etage stand bereits vollständig unter Wasser und die Erde vibrierte. Das Inferno hatte sich verselbstständigt. Ich spürte die Ohnmacht eines Kleinkindes, das im Supermarkt die unterste Ananas-Büchse aus einer mannshohen Pyramide gezogen hatte.
Tim stolperte auf das Dach.
„Bist du wahnsinnig? Du musst das stoppen. SOFORT!“, schrie er mich an. Der Wind pfiff uns um die Ohren.
„Ich kann nicht. Wir müssen hier weg. Ehe der ganze Bürokomplex einstürzt.“
„Wie, was heißt, du kannst nicht?! Das ist komplett idiotisch, was du machst. Da unten gibt es bereits Verletzte, vielleicht auch Tote! Was soll das alles?“
Tim war richtig wütend. So hatte ich ihn noch nicht erlebt.
„Du kapierst das alles nicht. Du kapierst gar nichts!“
„Nein, DU kapierst nichts!“, brüllte er mir entgegen. Ich sah, wie er den Halt verlor. Eine Windböe ergriff ihn und war dabei, ihn vom Dach zu schleudern. Ohne zu überlegen, warf ich mich in den Sog hinein, stolperte mit über das Dachgesims, bekam Tim im freien Fall zu fassen und schwang mich mit ihm auf Richtung Wald. Ich hatte keine Ahnung, ob es klappen würde, aber es klappte. Wir taumelten in der Luft, wurden auf- und abgetrieben wie ein Blatt im Wind. Ich registrierte, dass ich mich an Tim festhielt und nicht umgekehrt. Tim wehrte sich gegen mich, obwohl die Alternative sein sicherer Tod war. Ich hatte keine Gewalt über meine Kräfte. Ich war völlig durcheinander. In mir tobte ein größeres Chaos, als um uns herum. Ich wollte nur eins, auf den Boden zurück und überleben. Ich merkte, dass wir abstürzten. Wir trudelten in die Baumwipfel hinein. Die Nadeln und Äste stachen und piekten. Mit unzähligen Tannennadeln bedeckter Waldboden raste uns entgegen. Eine ähnliche Situation war noch gar nicht so lange her. Ob das besser war als Asphalt? Ein sinnloser Gedanke. Gleich würden wir aufschlagen. Gleich.
***
Um mich herum wurde alles weiß. Weiße Wattewolken hüllten uns ein. Diesmal konnte das kein Übergang in irgendeine magische Welt sein. Diesmal war es wirklich der Himmel. Wir starben und spürten nicht mal den Schmerz. Unsere Seelen verließen kurz vor dem Aufprall den Körper. So endete das Ganze also. Irgendwie kam es mir folgerichtig vor nach allem, was geschehen war. Wie sollte man so ein Leben auch weiter leben, besonders, nachdem ich am Ende Amok gelaufen war? Ich hatte Tim an den Handgelenken festgehalten. Als wir stürzten, konnte er sich nicht mehr wehren. Jetzt waren meine Hände leer. Wo war er? Ich wagte es nicht, mich umzusehen. Ich wünschte, dass er hier war, mit mir im Himmel, jenseits des Lebens. Gleichzeitig war dieser Wunsch egoistisch. Ich wollte nicht schuld an seinem Tod sein, auch wenn er den Rest seines Lebens mit Minchin verbringen würde. Eine andere Hoffnung durchfuhr mich. Vielleicht würde ich meiner Mutter wieder begegnen. Schneller, als gedacht. Aber sie würde enttäuscht sein. Sie hatte sich gewünscht, dass ich mit meinem Leben was anfing. Und mit meinen besonderen Fähigkeiten. Ich hatte nichts dergleichen versucht. Stattdessen nach ihrem Tod sofort verrückt gespielt und einige Leute mit in den Untergang gerissen. Ich hatte versagt. Ein alles durchdringender Schmerz meldete sich plötzlich. Gleichzeitig vernahm ich ein Stöhnen in meiner Nähe, das nicht von mir kam. Und dann eine helle, klingende Stimme, die nur von einem Engel stammen konnte. Ein durchscheinendes Gesicht mit großen blauen Augen und braunen Locken erschien in meinem Blickfeld. Das hatte ich schon mal erlebt. Und ich kannte den Engel. Es war Neve. Sie stemmte die Hände in die Seiten, als hätte sie die ganze Zeit nichts anderes getan und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. In ihrem Blick lag Kummer und aufrichtige Sorge.
„Das war diesmal im allerletzten Moment.“
„Tim …“, brachte ich mühsam hervor und versuchte, mich aufzurichten. Aber es gelang mir nicht. Alles tat mir furchtbar weh.
„Bleib liegen. Tim lebt, auch wenn er sich wahrscheinlich alle Knochen gebrochen hat. Ich hätte eine Minute länger gebraucht, um den Wolkennebel weicher und konsistenter hinzubekommen.“
Das war zum wiederholten Mal nicht der Himmel. Neve hatte uns gerettet, abgefangen mit Daunenwolken. Ich lebte. Meine Chance war noch nicht verspielt. Gleichzeitig lagen alle Last und alle Probleme schwer auf mir und ich hatte
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