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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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tragen zwischendrin auch Früchte. Alles gleichzeitig. Meine Oma hatte immer herrliches Kompott aus Sauerkirschen gemacht … und rote Grütze … und Kuchen.“
    Die Kirschen schmeckten köstlich, saftig, erfrischend säuerlich und trotzdem süß.
    Im Baum hingen lauter aus Papier gefaltete Sterne und Figuren und viele, viele Briefe. Ich berührte einen.
    „Ich habe sie ihr geschrieben. Ich schreibe immer noch welche. Die Papiersachen, sie hat immer so viel mit mir gebastelt. Sie war so lustig.“
    Neve strahlte. Dann wurde ihr Gesicht plötzlich traurig.
    „Alle sagen, ich wäre nicht schuld an ihrem Tod. Aber, ich glaube es immer noch … Hätte ich … Ach, egal …“
    Diesmal war es an mir, ihr zu versichern, dass es überflüssig war, sich mit Schuldgefühlen herumzuschleppen. Ich bat sie, mir zu erzählen, was geschehen war. Ich wollte endlich wissen, was Neve in ihrem Innern so tief verschloss. Ich wollte, dass keine Geheimnisse mehr Abstand zwischen mir und den Menschen hielten, die mir nahe standen. Neve setzte sich auf eine kleine bunte Bank, die genau gegenüber des blassblauen Kirschbaums stand und legte die Blumen neben sich ab. Ich legte meine dazu und setzte mich neben sie. Neves Stimme war ganz leise, so dass ich meine Ohren ziemlich spitzen musste.
    „Immer, wenn ich nachts in das Zimmer meiner Omi kam, weil ich mich gruselte – wir wohnten in einem alten Forsthaus, mitten im Wald. Mein Vater war Förster gewesen, weißt du – dann fuhr sie erschrocken aus dem Schlaf hoch und sagte: „Kind, hast du mich erschreckt. Du bringst mich damit noch ins Grab!“ Erst machte sie ein Gesicht, als sei sie vom Donner gerührt worden, aber kurz darauf lächelte sie, winkte mich heran und ich durfte mich in ihr warmes, großes Bett kuscheln und bei ihr schlafen. Ich glaube, in Wirklichkeit hatte sie in der Nacht genau solche Angst wie ich. Besonders, seit wir allein in dem Haus lebten, weil mein Vater nicht mehr aus dem Wald zurückgekommen war.“
    Neve begann, ein bisschen lauter zu sprechen. Ich erfuhr, dass ihre Mutter starb, als Neve gerade mal ein Jahr alt war. Neve besaß keine Erinnerungen an sie, aber ihr Vater war seitdem in völlige Sprachlosigkeit und Depression versunken. Neve konnte sich nicht an seine Stimme erinnern und ob er überhaupt jemals mit ihr gesprochen hatte. Als sie acht wurde, kam er eines Tages nicht mehr zurück aus dem Wald. Man hat ihn nie gefunden. Von da lebte sie allein mit ihrer Großmutter – der Mutter ihres Vaters – in dem großen, alten Forsthaus. Sie brachte Neve jeden Tag runter ins Dorf zur Schule und holte sie auch wieder ab. Solange bis Neve eines nachts, sie war gerade dreizehn geworden, vor dem Bett ihrer geliebten Oma stand. Doch diesmal fuhr sie nicht hoch wie sonst. Sie blieb einfach liegen und rührte sich nicht, als Neve die Tür zu ihrem Zimmer mit lautem Knarren öffnete. Sie wachte nicht mehr auf, weil sie im Schlaf gestorben war. Neve war sich sicher, dass sie ihre geliebte Omi, den einzigen Menschen, den sie hatte, diesmal wirklich zu Tode erschreckt hatte. In diesem Moment legte sich ein Schalter in ihr um. Neve war nicht fähig, die Realität an sich heran zu lassen. Stattdessen ergriff sie eine fixe Idee und nahm ihr ganzes Denken ein. Neve flüchtete aus dem Haus, rannte in den baufälligen Schuppen, schnappte sich ihr Fahrrad und raste in den Wald hinein. Die düstere Nacht war ihr auf einmal egal. Sie verspürte keinerlei Angst. Sie musste ihre Oma einholen, die sich auf den Weg in den Himmel befand. Neve trug nur ihr Nachthemd. Es verfing sich in den Pedalen. Neve fiel einige Male hin, riss immer wieder Fetzen des Stoffes aus der Fahrradkette und fuhr die ganze Nacht. Sie wusste nicht, wohin. Sie hatte nur ein Bild vor Augen, einen Ort, der hoch genug war, um von ihm zu springen und in den Himmel zu fliegen.
    Das Bild war stark und mächtig und verdrängte jeden vernünftigen Gedanken. Neve irrte durch den Wald. Waren es Tage oder Wochen? Sie wusste nicht, wie lange. Sie spürte keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst. Sie brauchte nichts. Sie war sich sicher, dass sie dabei war, ein Engel zu werden. Ihre Großmutter hatte das immer gesagt. Und jetzt wollte sie zu ihr. Sie würde sie finden.
    Irgendwann stellte Neve fest, dass sie im Kreis herumgeirrt war und fand sich vor dem alten Forsthaus wieder. Eine Frau aus dem Dorf stand in der offenen Eingangstür und stieß einen Schrei des Erstaunens aus, als Neve plötzlich vor ihr stand,

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