Himmelstiefe
zerzaust, verdreckt, zerrissen, aber lebendig. Neve erfuhr, dass man ihre Oma in eine Urne getan hatte und sie begraben wollte, sobald es keine Hoffnung mehr gab, dass Neve wieder auftauchte. Neve drängte die Frau, ihr die Urne zu zeigen. Sie stand im seit vielen Jahren nicht mehr genutzten und verstaubten Arbeitszimmer von Neves Vater auf dem Schreibtisch. Während die Frau aus dem Dorf die Polizei anrief, schnappte Neve sich die Urne und floh abermals. Sie musste endlich den Ort finden, den sie so verzweifelt suchte. Es war eine weiße Plattform aus Beton, die ganz von Himmel umgeben war, oben, an den Seiten und unten. Neve wusste nicht mehr, wie sie das Hochhaus gefunden hatte. Es stand mitten in Berlin, der riesigen und ihr völlig unbekannten Hauptstadt. Die Erinnerung an den Weg dorthin war komplett gelöscht. Hatten ihre Gedanken sie hingetragen oder war sie geflogen? Alles schien möglich. Sie wusste nur noch, wie sie mit einem Fahrstuhl viele Etagen hinauffuhr, durch eine Eisentür auf das Dach stieg, die Plattform aus ihrer Fantasie wiedererkannte und ohne zu zögern in die Tiefe sprang.
Ich schluckte. Das war eine heftige Geschichte, mit Abstand die heftigste aller Geschichten vom Drang, den Durchgang zu finden, die ich bisher gehört hatte.
„Das Seltsame war, ich sah gar keine Straße unter mir. Ich sah blauen Himmel, obwohl es Nacht war. Blauen Himmel und weiße Schäfchenwolken. Und ich wusste, da muss ich hin. Dort ist es. Dort leben die Engel.“
Ich sah Neve nur an, beobachtete die weiß glitzernden Punkte in ihren blauen Augen und schluckte erneut gegen die Trockenheit in meinem Hals.
„So bin ich hierhergekommen. Es war Kim, die mich am Ätherdurchgang gefunden hatte. Sie machte mir gleich klar, dass ich bloß nicht glauben sollte, im Himmel zu sein, wo verstorbene Angehörige herumlungern. Naja, du kennst sie. Mit der Wahrheit ist sie schonungslos. Es war ein Schock. Alles war ein Schock. So wie für dich. Aber sie hat es wieder gutgemacht. Sie war es, die dafür gesorgt hat, dass meine Oma auf diesem Friedhof begraben wird. Meine Oma sagte immer zu mir, ich wär ein Engel. Inzwischen glaube ich, sie hat von dieser Welt hier gewusst, weißt du.“
Neves Schicksal ging mir unter die Haut. Man glaubte immer, man würde nur allein schlimme Dinge durchmachen. Ich verstand endlich, warum Neve ein Engel sein wollte, warum sie glaubte, dass sie einer war. Ich bereute es, sie beschimpft zu haben. Ich bereute so vieles. Neve stand auf, streckte sich und strich ihr Kleid glatt, so als klebte daran der alte Kleister der Vergangenheit.
„Aber was rede ich so viel über mich. Es ist inzwischen viele Jahre her, während bei dir … Ach, ich bin unsensibel.“
Ihre Stimme klang wieder klar und heiter wie immer. Ich stand auch auf
und erklärte:
„Du weißt genau, wer von uns beiden unsensibler ist …“
Neve lächelte mich an und schüttelte den Kopf. Sie wirkte immer so geläutert und ausgeglichen. Wie hatte sie das nur geschafft?! Sie hatte ihren tiefen Lebenssinn und ihre Aufgabe gefunden, beantwortete ich mir die Frage selbst.
In gemächlichen Schritten liefen wir die kleinen Pfade zwischen den Gräbern entlang und schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Ich bemerkte, dass Neve mich an den Rand des Friedhofes führte, dorthin, wo die hohen Bäume des Waldes ringsherum lange Schatten auf die Lichtung warfen. Neve blieb vor zwei Bäumchen stehen, die ich fast übersehen hätte, weil sie kahl waren, weder Blätter trugen, noch Blüten, noch hingen Holzkästchen mit Lebensgeschichten in ihren Zweigen. Die Grabeinfassungen aus weißen Felssteinen waren mit Unkraut überwuchert. Die in die Baumstämme nachlässig eingeritzten Namen waren fast nicht zu erkennen: Alexander Starick und Clarissa Starick .
Ich hockte mich in den Sand und berührte mit meinen Händen das Unkraut. Hier lagen meine Eltern und niemand war in den letzten achtzehn Jahren hierhergekommen, um an sie zu denken. Natürlich gab es anständige Gründe dafür. Trotzdem. Es waren meine Eltern, meine richtigen Eltern, die man vergessen wollte, die ein dunkles Kapitel der Geschichte darstellten und deshalb in dieser dunklen, verwahrlosten Ecke ruhten. Die Tränen kamen und schüttelten mich. Ich konnte es nicht verhindern. Neves kleine Hand lag auf meiner linken Schulter. Ich spürte sie, ein winziger Halt im Meer, das sich in dem Moment um mich auftürmte. Dieser trostlose Ort war es also, an den Atropa immer
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