Himmlische Juwelen
Geburtsurkunden, Sterbeurkunden,
Eheverträge.«
Caterina versuchte sich die zwei Cousins vorzustellen: Kaum
anzunehmen, dass sie sich mit Computern besser auskannten als Roseanna. »Und
die beiden haben die Online-Suche selbst gemacht?«
»Die doch nicht. Das haben die Mormonen für sie gemacht.«
»Interessant«, sagte Caterina. »Aber ein Testament gibt es nicht,
oder?«
»Er hat keins hinterlassen, oder es hat sich keins [49] gefunden,
jedenfalls hat die Kirche alles für sich beansprucht; einiges wurde verkauft,
um seine Schulden zu bezahlen, der Rest war verschwunden, bis dann die Truhen
aufgetaucht sind.«
Caterina lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete ihre Füße.
Das Einzige, was die Cousins an den Dokumenten interessierte, war das Geld, das
sie einbringen könnten; aber welchen Wert besaßen die schriftlichen
Hinterlassenschaften eines vor dreihundert Jahren gestorbenen Komponisten, der
sogar bei Leuten ihres Fachs wenig Beachtung fand? Das Stabat
Mater war ein Meisterwerk, und die wenigen seiner Opernarien, die sie
kannte, waren wunderbar, wenn auch für moderne Ohren seltsam kurz. In London
hatte sie vor einigen Jahren Niobe gesehen und als
Offenbarung erlebt. Wie ging noch mal diese herzzerreißende Klage, ›Dal mio
petto‹? Mit dem ungewöhnlichen Tonartwechsel gegen Ende, der sie völlig aus der
Fassung gebracht hatte, als sie ihn hörte, und dann noch einmal, als ein Freund
ihr die Partitur zeigte. Doch ihre eigene Begeisterung trieb wohl kaum die
Preise in die Höhe. Ein Blatt einer Partitur von Mozart, von Bach oder Händel
war ein Vermögen wert, aber wer kannte Steffani? Dennoch waren die Cousins
bereit, einen Anwalt und Schlichter anzuheuern und ihr ein Honorar zu zahlen.
Für zwei Truhen voller Papiere?
Das Glück, schrieb ein englischer Dichter, den sie in der Schule
gelesen hatte, schwebe gleich Brunneneimern auf und nieder. So ging es auch mit
dem Glück von Komponisten, wenn der Geschmack sich änderte und man ihren Rang
neu bewertete. Die Wege zu den Konzerthäusern waren [50] übersät mit den Knochen
vergessener Berühmtheiten wie Gassmann, Tosi oder Keiser. Immer wieder wurden
längst verstorbene Komponisten ausgegraben und als Neuentdeckung gefeiert: Sie
hatte das bei Hildegard von Bingen und Josquin Desprez erlebt. Ein gutes Jahr
lang war kein Konzerthaus ohne eine Aufführung ihrer Musik ausgekommen. Dann
kehrten sie ins Reich der Toten zurück und wurden in Büchern abgehandelt, und
genau dorthin gehörten sie nach Caterinas Meinung auch. Aber wenn es davon, was
sie in London gehört hatte, noch mehr gab, dann gehörte Steffani in eine andere
Kategorie.
»Hörst du mir zu?«, fragte Roseanna.
»Nein, entschuldige«, sagte Caterina mit verlegenem Grinsen. »Ich
musste an etwas denken.«
»Woran?«
»Dass Steffanis Musik heutzutage von niemandem geschätzt wird.« Sie
fand das bedauerlich, wenn sie an die Schönheit der Arien und das meisterhafte Stabat Mater dachte. Vielleicht war es an der Zeit, dass
der gute Bischof auf die Bühne zurückkehrte?
»Die Musik interessiert die beiden nicht«, sagte Roseanna.
»Was denn dann?«, fragte Caterina. Was sonst konnte die Jahrhunderte
überdauert haben?
»Der Schatz.«
[51] 5
Die Verblüffung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Der
Schatz? Was für ein Schatz?«
»Hat er dir nichts gesagt?«, fragte Roseanna.
»Wer?«, fragte Caterina. »Was?«
»Dottor Moretti. Er muss das doch wissen«, sagte Roseanna
überrascht. »Ich dachte, das hat er dir bei der Einstellung gesagt.«
Caterina, die an einem Strand entlanggeschlendert war und müßig nach
Muscheln gesucht hatte, wurde plötzlich von einer Welle erfasst. Das Wasser,
erkannte sie, war tiefer, als sie vermutet hatte. Sie dachte an die zwei
Cousins, und auf einmal sah sie spitze Rückenflossen durchs Wasser pflügen. Um
das Bild zu verscheuchen, legte sie eine Hand auf Roseannas Arm und sagte:
»Glaub mir. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest.«
»Ma, ti xe Venexiana?«, fragte Roseanna in
breitem Dialekt.
Caterina nickte: Sie war so lange von zu Hause fortgewesen, dass das
Italienische ihr jetzt leichter über die Lippen kam als die Sprache, die sie
von Kindesbeinen an gesprochen hatte. Doch der Dialekt war noch immer die
Sprache ihres Herzens.
»Du bist Venezianerin und weißt nichts über die beiden?«, fragte
Roseanna, indem sie Caterinas Aufmerksamkeit von dem Schatz auf die zwei
Cousins lenkte.
»Der Wucherer und der Mann mit
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