Himmlische Juwelen
Truhen jetzt zu öffnen, damit wir einen
Blick hineinwerfen können und sie anschließend an die Arbeit gehen kann.«
Diesmal zögerte Caterina nicht: »Das lässt sich hören«, sagte sie
und ging auf die kleinere Truhe zu. Sie ließ sich auf ein Knie nieder, fasste
den Deckel an beiden Seiten an, klappte [85] ihn hoch und hielt ihn mit der
linken Hand fest. Und schon zeigte sich, warum die Truhe so leicht war: Sie war
nur halb gefüllt. Die gebündelten Papierpäckchen, die zuoberst lagen, sahen
aus, als seien sie im Lauf der Jahrhunderte immer wieder durchgeschüttelt
worden, und so war es vermutlich auch. Aber da sie, wie die Truhen, kreuzweise
verschnürt waren, schienen die Päckchen selbst unversehrt.
Caterina ließ den Deckel wieder vorsichtig auf die Truhe sinken, was
lauten Protest hervorrief. »Un momento«, beschwichtigte sie und streifte ein Paar weiße Baumwollhandschuhe aus ihrer
Tasche über. Erst dann öffnete sie den Deckel wieder.
Sie nahm das oberste Päckchen links, trug es zum Tisch, legte es mit
der Oberseite nach unten hin, ging zur Truhe zurück und sah sich die
verbliebenen Papiere genauer an. Hinter sich hörte sie die andern näher kommen.
Der Kreis um sie hatte sich geschlossen. Päckchen um Päckchen, Stapel um Stapel
schichtete sie vor aller Augen auf den Tisch. Als die Truhe leer war, bückten
die Cousins sich darüber und spähten hinein, um sich zu vergewissern, dass auch
ja nichts mehr darin war.
Signor Scapinelli hätte wohl am liebsten nachgesehen, ob Caterina
etwas im Ärmel versteckt hatte. Da sie ihn scharf ansah, spähte er eilig noch
einmal in die Truhe.
Als die Cousins sich sattgesehen hatten, legte Caterina die Päckchen
in der ursprünglichen Reihenfolge in die Truhe zurück; nur das erste ließ sie
draußen neben den Schlüsseln.
Scapinelli sah schon wieder auf die Uhr. Zügig wiederholte Caterina
die Prozedur mit dem Inhalt der zweiten Truhe. Als feststand, dass sich auch
hierin nur Papiere [86] befanden, verstaute sie alles wieder wie vorher und trat
beiseite. Dottor Moretti half Stievani, die größere Truhe hinten in den Tresor
zu stellen. Dann schoben sie die kleinere wieder davor.
Caterina ließ die Tresortür offen, ging zum Tisch, platzierte das
Päckchen vor dem Stuhl des Exdirektors und verabschiedete die Gäste. »Danke für
Ihre Hilfe, meine Herren«, sagte sie zu Dottor Moretti und Signor Stievani
gewandt und legte die Tresorschlüssel auf das Ablagebrett des Schreibtischs.
»Und jetzt?«, fragte Signor Scapinelli; wieder sah er auf die Uhr,
zweifellos nervös wegen der Preise der Restaurants in der Nähe.
»Ich gehe zum Essen nach Hause«, sagte Roseanna.
»Ich bin mit einem Klienten verabredet«, meinte Dottor Moretti.
Signor Scapinelli erklärte: »Mein Sohn erwartet mich im Geschäft.«
Darauf sein Cousin: »Ich darf meinen Zug nicht verpassen.«
Die Versuchung, ›Io men vado in un ritiro a finir la vita mia‹ zu
trällern, war so groß, dass Caterina die Fingernägel in ihre Handflächen
presste. Als sie sich wieder unter Kontrolle hatte, zog sie den Stuhl vor und
sagte: »Dann mache ich mich wohl mal an die Arbeit.«
[87] 9
Endlich waren sie weg, und Caterina konnte sich an den
Schreibtisch setzen. Endlich war sie ungestört. Selbst während die Truhen
geöffnet und die Papiere herausgenommen wurden, hatte niemand Steffani auch nur
mit einem Wort erwähnt. Der Gedanke, dass einer der Cousins ein echtes
Interesse für Barockmusik haben könnte, war abwegig, und von Dottor Moretti
wusste sie bisher nur, dass er Wert auf elegante Kleidung und eine gepflegte
Sprache legte. Roseanna beschäftigte sich zwar mit Barockmusik im Allgemeinen
und mit den Musikerleben im Besonderen, hatte sich aber beim Öffnen der Truhen
klugerweise zurückgehalten. Nur Caterinas Interesse galt Steffani und
insbesondere seiner Musik. Was sonst konnte nach so langer Zeit noch von
Bedeutung sein?
Steffani war überdies Priester. Sie erinnerte sich, dass er am Hof
nicht nur als Musiker arbeitete, sondern auch in die Politik verwickelt war,
doch wann waren Geistliche nicht in Politik verwickelt? Eigentlich hätte er
seinen Nachlass auch der Kirche vermachen können. Vielleicht fand sie hierzu
Näheres in den Papieren. Doch warum hätte die Kongregation die Truhen dann
zurückgeschickt?
Sie kippte auf ihrem Stuhl nach hinten und verschränkte die Hände im
Nacken; noch hatte sie keine Eile. Bevor sie die Papiere ansah, wollte sie
Klarheit darüber, was hier
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